4. Juli 2023 Mohamed Wa Baile

#2autopsie

In der Schweiz sterben Menschen durch Polizeigewalt. Die Geschichten von Ali Reza, Roger Nzoy und Susanne sind drei Fälle unter vielen.

Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um Helvetzide, die darin beschriebene rassistische Gewalt kann schwierige Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks auslösen.

ALI REZA

#helvetzid/suizid
am 30.11.2022
im Genfer Asylheim «Foyer de l'Étoile».

Als 18-jähriger Teenager of Color warst Du seit 2021 in der Schweiz, ohne vom Migrationsamt eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Die Behörden hatten Dir mitgeteilt, dass Dein Rekursverfahren abgelehnt wurde. Du solltest nach Griechenland zurückgeschickt werden. Dies obwohl Du den Behörden darlegtest, dort physische und sexuelle Gewalt erlebt zu haben. Zudem reichtest Du medizinische Atteste ein, die eine psychische Erkrankung bescheinigten. Das Migrationsamt berücksichtigte aber die Meinung der medizinischen Fachleute nicht. Du sahst keinen Ausweg.
 Im aus Containern gebauten «Foyer de l’Etoile», wo du gestorben bist, fühlen sich Geflüchtete wie in einem Gefängnis. Es kommt immer wieder zu Auseinandersetzungen mit den Mitarbeitenden einer privaten Sicherheitsfirma. Es gibt Gitter. Die Geflüchteten sind zu zweit in einem 4m² großen Zimmer.

ROGER NZOY

#helvetzid
am 30.08.2021
auf einem Bahnhofsgleis am Bahnhof Morges.

Die Polizei behauptete, dass Du Polizist:innen mit einem Messer bedroht hättest. Die US-Polizei behauptete dasselbe, als sie George Floyd tötete. Die Zeug:innen vor Ort berichten dagegen von einem ganz anderen Geschehen. Auch ein Video zeigt eine völlig andere Version. Du warst nicht gewalttätig; Du warst verängstigt, weil die vier Polizist:innen ihre Waffen auf Dich gerichtet hatten. Sie schossen dreimal auf Dich, und als Du regungslos und blutend auf dem Boden lagst, legten sie Dir Handschellen an.
In Zürich, wo Du 1984 geboren wurdest, werden Proteste organisiert, die eine unabhängige Untersuchung und Gutachten von Expert:innen fordern, um die Polizei zur Rechenschaft zu ziehen. Überall in der Stadt hängen Plakate und Aufkleber mit Justice4Nzoy. Es wächst eine diverse Bewegung heran, die Gerechtigkeit für Dich und alle von Rassismus Betroffenen fordert.

SUSANNA

#helvetzid/suizid
aufgrund prekärem Aufenthaltsstatus und drohender Ausschaffung im Frühling 2021
in St. Gallen.

Du kommst in der Schweiz zur Welt. Trotzdem giltst du seit Deiner Geburt als vorläufig aufgenommene Person. Dein F-Ausweis kann Dir jederzeit entzogen werden. Deine Mutter ist aus Kurdistan geflüchtet. Du wächst im Asylheim auf, und aufgrund der Flucht- und Gewalterfahrungen Deiner Mutter teilweise auch in Pflegefamilien. Gegen Ende der Oberstufe finden Deine Mitschüler:innen eine Lehrstelle, Du aber erhältst wegen Deines F-Status eine Absage nach der anderen. Die Behörden drohen Dir mit der Ausschaffung, wenn Du keine Lehrstelle bekommst. Deine Psychologin schreibt dem Migrationsamt einen Brief, in dem sie erklärt, dass Du wegen Deines prekären Aufenthaltsstatus massive Zukunftsängste habest. Dein Anwalt findet, Du hättest gemäss geltendem Recht längst eine Aufenthaltsbewilligung erhalten müssen. Das Migrationsamt lehnt Dein Gesuch trotzdem ab. Du bist 18, als Du dir das Leben nimmst

Was sind Helvetzide?

Helvetizide sind rassismusbedingte systematische Todesfälle, die in Polizeigewahrsam, Asylzentren, Ausschaffungsknästen und Spitälern der Schweiz passieren. Institutioneller Rassismus ist auch in der Schweiz eine tödliche Realität! Viele Schwarze Menschen und People of Color sind durch Schweizer Institutionen gestorben. Ihr Tod wurde selten öffentlich bekannt, und niemand wurde zur Verantwortung gezogen.

#2.autopsie: Unabhängige medizinische Gutachten

Was es bei Helvetzid-Fällen dringend braucht, ist eine unabhängige Autopsie, eine medizinische Untersuchung der Leiche zur Feststellung der Todesursache, welche einem Gutachten gleichkommt. Normalerweise führen Institute für Pathologie an Universitätsspitälern Autopsien mit Fragen zu Gutachten durch. Doch wir können uns nicht auf die offizielle Autopsie und deren Fragestellung verlassen, die von staatlich besoldeten Gerichtsmediziner:innen bei Todesfällen in staatlichen Institutionen durchgeführt werden. Denn diese Expert:innen arbeiten in ihrem Alltag regelmässig mit Polizist:innen wie Richter:innen und Staatsanwält:innen zusammen. Sie sind deswegen bewusst oder unbewusst schon voreingenommen und ergreifen Partei.

Um zu wissen, was wirklich in den Fällen passiert ist, ist es dringend notwendig, immer eine zweite Meinung von Patholog:innen einzuholen, die nicht eng mit der Polizei und den Gerichten zusammenarbeiten. Denn diese medizinischen Gutachten sind sehr wichtig für den Verlauf eines Gerichtsprozesses, sie kosten aber sehr viel Geld.  

Die staatlich besoldeten Gerichtsmediziner:innen sind sich gewohnt, sich auf den Tatablauf in der Version der Polizist:innen zu beziehen. Das zeigt auch der Fall von George Floyd in den USA. Der staatsnahe Gerichtsmediziner nannte Herzerkrankungen, Fentanyl und Metamphetamin als mitwirkende Faktoren des Todes von George Floyd. Die von Floyds Familie beauftragten Gerichtsmediziner:innen erklärten jedoch, dass Asphyxie, also Sauerstoffmangel, die Todesursache war, und gaben den beteiligten Polizeibeamten die alleinige Schuld für den Tod von George Floyd.

Deshalb brauchen wir unbedingt eine Gruppe, die unabhängige Patholog:innen organisiert, die für die Familien von Menschen, die in Polizeigewahrsam oder bei Polizeieinsätzen gestorben sind, Zweitautopsien durchzuführen.

MANN, NAME UNBEKANNT
#helvetzid
am 03. Januar 2023
im Asylcamp Le Lagnon in Genf

ALI REZA
#helvetzid
am 30. November 2022
im Foyer de l´Étoile in Genf


RHEZA SHARIFI
#helvetzid
am 14. April 2022
Wohnhaft gewesen in Ehrendingen


NESURASA RASANAYAGAM
#helvetzid
am 15. Februar 2022
500 m vom Asyllager
Gampelen


MANN, NAME UNBEKANNT
#helvetzid
am 22. Dezember 2021
im Zürcher Polizeigefängnis


ROGER NZOY
#helvetzid
am 30. August 2021
im Bahnhof Morges
durch drei Schüsse eines Polizisten


SUSANNA
#helvetzid
im Frühling 2021
in St. Gallen
In der Schweiz geboren
Von Ausschaffung bedroht
Mit 18 Jahren


SEZGIN Dağ
#helvetzid
am 13. November 2020
auf dem Weg ins Spital
Asyllager Lyss
Herzproblem rassistisch ignoriert


MIKE BEN PETER
#helvetzid
am 28. Februar 2018
bei einer Polizeikontrolle
beim Bahnhof Lausanne


LAMIN FATTY
#helvetzid
am 23. Oktober 2017
wegen einer Verwechslung
in Lausanne inhaftiert


SUBRAMANIAM H.
#helvetzid
am 6. Oktober 2017
bei einem Polizeieinsatz
im Asyllager in Brissago


HERVÉ MANDUNDU
#helvetzid
am 6. November 2016
vor seiner Wohnung
in Bex VD durch Polizei-Schüsse


SARA JNEID
#helvetzid
am 4. Juli 2014
in Domodossola
bei der Rückweisung
ihrer Mutter an der Grenze


MONCEF S.
#helvetzid
am 2. Mai 2013
mit 26 Jahren
im Zürcher Flughafengefängnis


ILHAN O.
#helvetzid
am 4. Januar 2013
mit 20 Jahren
im Zürcher Flughafengefängnis


OLEG N.
#helvetzid
am 12. November 2013
mit 28 Jahren
im Zürcher Flughafengefängnis


MEDINA YASSIN SULEYMAN
#helvetzid
am 18. März 2012
mit 26 Jahren
im Asyllager Schmerikon


FRAU, NAME UNBEKANNT
#helvetzid
am 3. Juni 2011
im Polizeigefängnis Zürich


JOSEPH N. CHUKWU aka ALEX KHAMMA
#helvetzid
am 17. März 2010
am Flughafen Zürich
bei Zwangsausschaffung mit Vollfesselung


ANDY BESTMAN
#helvetzid
am 30. Mai 2008
bei einer Polizeikontrolle in Basel


ABDI DAUD
#helvetzid
am 23. März 2008
nach mehrmonatiger Ausschaffungshaft in Zürich


JOHN WALLAS
#helvetzid
am 13. September 2007
in Genf nach Wegweisung von Asylunterkunft


MARIAME SOUARÉ
#helvetzid
am 25. August 2007
bei einer Polizeikontrolle in Genf


ALHUSEIN DOUTO KORA aka MODOU KEITA
#helvetzid
am 5. März 2007
im Zürcher Polizeigefängnis

OUSMAN SOW
#helvetzid
am 2. Januar 2007
im St. Galler Regionalgefängnis
Altstätten während Hungerstreik


MANN, NAME UNBEKANNT
#helvetzid
am 23. Januar 2005
im Gefängnis Sarnen


ANTHONY
#helvetzid
am 1. September 2004
im Gefängnis von  Bellinzona


YAYA BAKAYOKO
#helvetzid
am 3. Juni 2004
während eines Polizeieinsatzes in Basel    

CLAUDIO M.
#helvetzid
am 29. April 2004
bei seiner Festnahme in Brüttisellen ZH


MANN, NAME UNBEKANNT
#helvetzid
im Januar 2004
im Gefängnis in Lachen SZ


MANN, NAME UNBEKANNT
#helvetzid
im Januar 2004
im Gefängnis in Bellinzona


OSUIGWE CHR. KENECHUKWU
#helvetzid
am 12. Februar 2003
im Durchgangszentrum St. Gallen


HAMID BAKIRI
#helvetzid
am 20. September 2001
in einer Zelle des Polizeikommandos in Chur    

CEMAL G.
#helvetzid
am 3. Juli 2001
bei einem Polizeieinsatz
in seinem Haus in Bern-Bethlehem


SAMSON CHUKWU
#helvetzid
am 1. Mai 2001
bei einer Zwangsausschaffung in Granges VS


MANN, NAME UNBEKANNT
#helvetzid
am 31. Dezember 2000
im Schaffhauser Kantonsgefängnis Beckenstube


KHALED ABUZARIFA
#helvetzid
am 3. Mai 1999
bei seiner Zwangsausschaffung
im Flughafen Kloten


Langatmiger Kampf gegen Helvetzide

Der Kampf gegen Rassismus ist langatmig. Baut Solidaritätsgruppen auf, um einzelne Gerichtsverfahren gegen rassistische Polizeiarbeit bis zum Schluss zu unterstützen. Dies heisst in der Realität, sich mehr als 10 Jahre um Finanzen, Rechtshilfe und emotionale Unterstützung, Politisierung des Falles und Öffentlichkeitsarbeit zu kümmern.

Ihr könnt Euch in den folgenden Gruppen gegen Helvetzide engagieren und informieren:

Justice4Nzoy, Migrant Solidarity Network und Allianz gegen Racial Profiling

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