12. Mai 2023 Anastasia Gerber
Ein Kind reist mit der Familie in den Sommerferien in den Süden. Sein Weg kreuzt sich mit dem eines nicht-europäischen Kindes. Die Reise dieser Kinder verläuft unterschiedlich.
Die Sonnenstrahlen kitzeln auf der Haut, der Wind riecht nach Meereswasser. Die Gedanken sind schon beim Strand, der Eiscreme und beim Wassermelonenessen. Während die Autos in der Schlange stehen, bereit um einzuschiffen, krähen die Möwen laut und kreisen über ihnen. Es gibt grosse und kleine Wohnmobile, Familien in mit Gepäck überfüllten Personenwagen und Motorradfahrende. Und dann gibt es da noch die Lastwagen. Furchteinflössend gross und schwer. Die Aufschriften auf den Containern sind immer anders. Manchmal auch in Sprachen, die ich nicht verstehe. «Mama, warum geht das denn so lange?»
Als die Autos sich langsam in Richtung Schiffseingang bewegen, steigen wir aus und gehen langsam zum Schiff, während die Sonne uns auf den Nacken brennt. Es ist laut. Die Lastwagen fahren mit viel Krach über die Schiffsbrücke. Zwischen dem Lärm sind die Anweisungen des Schiffspersonals zu hören. Neben dem Schiffspersonal sind auch Männer in Uniform vor Ort. POLIZIA steht in weisser Schrift auf ihren Rücken. Sie blicken ernst und beobachten die Lastwagen und Autos, die aus der Fähre herausfahren. Wir gehen schnell zwischen den Fahrzeugen hindurch. Ich halte mein Stofftier – einen schwarzen Puma, den ich aber Tiger nenne – fest in meinen Händen, damit ich ihn nicht verliere. Wir müssen beim Fussgängereingang neben dem Schiffseingang für die Fahrzeuge stehen bleiben. Durch die Verbindungstür beobachte ich das Treiben.
Während wir nun so anstehen, sehe ich einen Jungen neben zwei Männern in Uniform. Ein dritter steht neben einem Lastwagen, der hinter ihnen auf der Schiffs- brücke wartet. Der eine Mann hält den Jungen fest, der andere legt ihm irgendetwas um die Hände. Ich verstehe nicht, was passiert. Warum machen sie das mit diesem Kind? Und ist der Junge ganz allein? Er trägt ein schwarzes T-Shirt, dunkelbraune Hosen und schwarze Turnschuhe. Seine Haare sind rabenschwarz. Auf seinen Kleidern sind Flecken. Er scheint kein Gepäck dabei zu haben. Er sieht sehr jung aus, vielleicht ein bisschen älter als ich.
Hat er vielleicht auch einen Tiger?
Dann packen die Männer ihn und kommen auf die Verbindungstür zu. Als sie an uns vorbeigehen, treffen sich unsere Augen. Seine sind ein bisschen rot und weit offen. Ich weiss nicht, ob er wütend ist oder gleich weinen möchte. Er schaut aus, als hätte er etwas verloren. Sein Gesichtsausdruck jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken. Die Männer in Uniform drücken sich durch die Menschenmenge und gehen mit dem Jungen die Treppe hoch und schliesslich in einen anderen Raum, den ich nicht sehen kann.
Nach einiger Zeit können meine Mutter, mein Bruder und ich auf der Treppe nach oben steigen – vorbei an dem Raum, in den der Junge gebracht wurde – und weiter hinauf in den Aufenthaltsbereich des Schiffs.
Was ist hinter dieser Tür?
«Mama, wo ist der andere Junge?»
«Das weiss ich nicht, mein Schatz.»
Warum darf er nicht nach oben wie wir anderen?
«Warum haben sie ihn mitgenommen, Mama?»
Sie streichelt mir über den Kopf. «Das kann ich dir jetzt leider nicht erklären. Das verstehen nur Erwachsene.»
Warum verstehen das nur Erwachsene?
«Wieso?»
«Es ist kompliziert.»
Wir verbringen die Reise in den oberen Stöcken in einer schönen Kabine. Viele Tourist:innen sind auf dem Schiff, Familien mit Kindern und Pärchen, Lastwagenfahrer: innen und das Schiffspersonal. Immer wieder suche ich nach dem Jungen und denke an die vielen Stockwerke unter uns. Dort irgendwo, wo es keine Aufenthaltsräume und Kabinen, keine Fenster mit Blick aufs Meer gibt, muss er sich befinden. In der Nacht schlafe ich in der Kabine in einem Bett. Ob er wohl ein Bett zum Schlafen hat?
Wir verlassen die Fähre wieder zu Fuss. Als wir die Treppe hinunter gehen, kommen wir an dem Raum vorbei. Kommt er jetzt auch nach draussen? Macht er Ferien wie wir? Draussen auf dem grossen Platz, an der prallen Sonne, warten wir auf unser Auto. Der Lärm und das Geschrei des Personals kehren zurück. Mein Blick wandert über den Platz: Ich suche noch immer nach dem Jungen. Viele Lastwagen verlassen die Fähre über die Schiffsbrücke. Dieses Mal stehen fast keine Männer in Uniform an der Anlegestelle. Zurück im Auto verlassen wir das Hafengelände und fahren weiter in Richtung unseres Ferienziels. Ein letztes Mal drehe ich mich um, um aus dem Rückfenster zu schauen und vielleicht etwas zu sehen. Aber da ist nichts.
In der gleichen Ausgabe der Papierlosen Zeitung erschien der Beitrag «Zurück ins Meer» von Ari Suleiman, der das erste Mal als Tourist ans Mittelmeer reiste. Und plötzlich von einer tiefen Traurigkeit heimgesucht wird.