3. Dezember 2012 Michael Schmitz

Blick am Abend: Panikmache mit erfundenen „Fakten“

„60 Prozent der Asylbewerber sind HIV-positiv“, titelte Blick am Abend in seiner Ausgabe vom 30. November. Dabei handelt es sich um eine unglaubliche Verdrehung einer Aussage eines Aids-Hilfe-Schweiz-Vertreter. Auf die stösst aber nur, wer den ganzen Artikel liest. Auf äusserst verwerfliche Weise trägt die Zeitung damit zur Panikmache gegen Asylsuchende bei.

Die Geschichte mit den HIV-positiven Asylsuchenden beschäftigt den Blick am Abend schon länger. Am 14. November brachte er einen längeren Artikel mit dem Titel „Sollen Asylbewerber zum Aids-Test?“ Der Text behandelte das Thema alles in allem sachlich. Der befragte Experte erachtete Zwangstests für alle Asylsuchenden nicht als sinnvoll und betonte die Wichtigkeit von Informationskampagnen sowie freiwilligen Beratungs-und Testangeboten.

Einige Asylsuchende, die den Text in einem Deutschkurs der Autonomen Schule Zürich (ASZ) lasen, empfanden den Artikel zunächst nicht als rassistisch. Als sie dann aber verglichen, wie kurz demgegenüber der kürzliche Selbstmord eines Ausschaffungshäftlings in Kloten in der gleichen Zeitung abgehandelt wurde, änderten sie ihre Meinung und kritisierten den Fokus von Blick am Abend auf negative Bilder über Asylsuchende.

Unglaubliche Faktenverdrehung

Leider bestätigte sich etwa zwei Wochen später, dass es der Zeitung nicht wirklich darum geht, die Aids-Prävention bei Asylsuchenden und die Unterstüzung im Krankeheitsfall zu thematisieren – an sich ja ein legitimes Thema. Im Artikel erklärt Harry Witzthum von der Aids-Hilfe Schweiz: „Mit Blick auf Personen aus Subsahara zeigen die epidemologischen Daten, dass sich über 60 Prozent der betroffenen Personen bereits in ihren Herkunftsländern mit HIV infiziert haben.“ Diese Aussage verwandelt sich nun aber wie durch ein Wunder in den Titel „60 Prozent der Asylbewerber sind HIV-positiv“!

Fixiert auf negative Stereotypen

Was steckt hinter dieser Verdrehung? Ist hier jemand schlicht und einfach unfähig, statistische Aussagen zu verstehen - eine verlangte Kompetenz übrigens im Deutschtest für das Niveau B1, ohne das MigrantInnen viele Ausbildungen und Kurse verschlossen bleiben? Oder sind hier bewusst Fakten verfälscht worden, um mit Stimmungsmache gegen Asylsuchende bei den Lesern zu punkten? An einen schlichten Verständnisfehler zu glauben (und sei es nur ein Flüchtigkeitsfehler) fällt schwer.
Wenn auch die Verdrehung vielleicht nicht bewusst geschah, zeigt sich doch, wie fixiert gewisse JournalistInnen darauf sind, Negativmeldungen über MigrantInnen und Asylsuchende im Speziellen zu suchen. Und wenn der Wunsch sehr stark ist, kann sich – wir kennen es wohl alle – in der eigenen Wahrnehmung die Realität dem Wunsch anpassen. So wird dann das Zitat Wizthums über HIV-positive Personen aus Subsahara, von denen 60 Prozent sich schon in den Herkunftsländern angesteckt hätten, zu einer Aussage über alle Asylsuchenden, von denen 60 Prozent HIV-positiv sehen. Dass es zudem bei den 60 Prozent um die Ansteckung in den Herkunftsländern geht, verschwindet ganz aus dem Titel, der sogar mit Anführungszeichen als Zitat markiert ist.

Der «gesunde Volkskörper»

MigrantInnen als krank, ansteckend und gefährlich anzusehen, ist ein beliebtes rassistisches Stereotyp. Der angeblich gefährdete „gesunde Volkskörper“ spielte als rassenhygienisches Konzept seit dem letzen Drittel des 19. Jahrhunderts eine grosse Rolle und fand auch grosse Resonanz bei den Nationalsozialisten. Oft wurde dabei ein enger Zusammenhang hergestellt zwischen dem bakteriologischen Virus, der sich verbreitet und Körper befällt, und den ausländischen „Eindringlingen“, die das Volk gefährden:
Die aggressiven Migrations- und Invasionsmetaphern der Bakteriologen fließen zurück in die Politik und verbinden sich bald mit nationalistischen und rassistischen Kulturvorstellungen. 'In der nationalistischen Vorstellung entwickelt sich das Bild des reinen Volkskörper und des reinen Staates, der nach außen dicht gemacht und dicht gehalten werden muss', so Marianne Hänseler. Schon 1896 ist im Reichstag von Cholerajuden die Rede. Es ist nur ein kleiner Schritt vom Fremden als Krankheitsüberträger zum Fremden als Krankheitserreger im Volkskörper.1
Mit seinem Titel stellt sich Blick am Abend gewollt oder ungewollt in diese Tradition.
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1) Sprachbilder schüren Massenmordfantasien: Das Vernichtungslager wird zur "Sanierungsanstalt" für den "Volkskörper", http://www.3sat.de/page/?source=/scobel/144481/index.html


Wie es weiterging

Die Autonome Schule Zürich führt am 6. Dezember 2012 eine Protestaktion vor der Blick-am-Abend-Redaktion durch. Dabei musste sich Chefredakteur Röthlisberger mit den empörten Reaktionen von Aktivist*innen der ASZ und Asylsuchenden konfrontieren (siehe Video unter dem Link). Am nächsten Tag veröffentlichte die Gratiszeitung unter dem Label Fairness bei Blick am Abend eine Richtigstellung, ohne aber auf die grundsätzliche Kritik an ihr Bezug zu nehmen.

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