24. August 2017 Badr Bodor
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Zwischen Zürich und Paris liegen 50 Flugminuten. Da der Krawall im Flugzeug bisher nichts gebracht hat, denke ich darüber nach, beim Boarding von der Rampe zu springen, wenn sie mich auf den nächsten Flieger bringen wollen. Wegen der starken Schmerzen in meinem Rücken versuche ich, mich selbst festzuhalten. Als der Flieger in Paris landet und alle anderen Passagiere aussteigen, bringen sie mich in einen französischen Polizeiwagen, in dem auch ein Beamter des Flughafens Charles-de-Gaulle sitzt. Die Armee an Schweizer Polizisten ist hinter mir und nimmt mich an meinen Armen zur Polizeistation. Wir gehen an all den Passagieren vorbei, jede*r sieht mich an, als wäre ich gefährlich, mit den Handschellen und all den Uniformierten um mich herum... Bei der Passkontrolle und dem Sicherheitscheck fühle ich mich fast wie ein VIP-refugee.
Viele Tore und Türen öffnen sich, bis wir in einem kleinen Warteraum in der Polizeistation ankommen. Hier sehe ich auch andere refugees aus Marokko, die mit verängstigten Gesichtern auf uns warten. Mit dem bisschen Englisch, das ich kann, verstehe ich das Gespräch der drei schwedischen Polizisten mit den Schweizer Beamten. Sie machen erst Witze über die Ähnlichkeit der Namen ihrer Länder und darüber, wie oft man sie verwechselt – das absurdeste und dümmste, was man in einer solchen Situation hören will. Dann sprechen sie über eine Strategie, um ihren Plan umzusetzen: Jemand solle wieder mit dem Piloten sprechen. Eine Beamte aus dem französischen Korps nimmt diese Aufgabe auf sich, zwischen dem Piloten und der schwedischen, norwegischen und schweizerischen Polizei zu vermitteln. Sie sagen sogar, dass es dieses Mal leichter würde als sonst. «Wenn etwas schiefläuft, haben wir den Arzt aus Zürich! Das werde ich dem Piloten erklären, macht euch also keine Sorgen», höre ich sie sagen.
Sie sprechen lange weiter, sicher während zwei Stunden, und ich versuche mehrmals, zur Toilette zu gehen, einfach um aufzustehen und zu schauen, ob ich irgendeinen Gegenstand finde, mit dem ich mir so schaden könnte, dass ich ins Spital muss. Doch da ist nichts. Die Polizeibeamten stehen immer noch hinter mir, sie sind überall und fragen mich, ob ich für den Toilettengang irgendetwas brauche, doch ich lehne ab und sage ihnen, dass sie sich die Medikamente sonstwohin stecken können. Der Arzt erklärt mir, dass ich wegen der Panik nicht auf die Toilette gehen kann, und öffnet den Wasserhahn ein wenig, damit ich mich entspannen kann.
Ich muss Widerstand zeigen
Irgendwann beenden die Beamten ihre Diskussionen mit der Frage, in welchem Hotel sie in Marokko bleiben, bis sie zum Rückflug antreten. Ich denke darüber nach, was geschieht, sollte dieser Flug erfolgreich sein... Wie sieht dort meine Zukunft aus? Ich spüre Traurigkeit und Wut, und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr will ich Widerstand zeigen. Ich muss irgendetwas tun!
Gegen 12 Uhr kommt die französische Polizei zurück und sagt allen, dass sie beginnen können, uns zum Flugzeug zu bringen. Die schwedischen Beamten beginnen damit, ihre Opfer an den Armen nach draussen zu ziehen, darauf folgen die Schweizer Beamten. Ich frage nach einer Zigarette, doch dafür sei keine Zeit. Wir gehen den ganzen Weg zurück, wieder vorbei an den Passagieren, die uns anstarren. Ich beginne auf Französisch auszurufen: «Keine Sorge, wir sind nur Geflüchtete!» Die Beamten herrschen mich an, ich solle ruhig sein.
Wir gehen zurück zum Polizeiauto und fahren zum Flugzeug. Dieses Mal kann der Einsatzleiter sitzen bleiben – die französische Polizei übernimmt die Verhandlungen mit der Crew und später auch die Platzierung der refugees in der Maschine. Sicher 15 Minuten diskutieren sie, dann geben sie das Signal, uns durch den hinteren Eingang zu bringen. Mein Blick ist auf die Rampe fixiert, ich versuche den besten Moment zu erwischen, um abzuspringen. Das Auto rollt in Richtung der Flugzeugtür, sie beginnen erst mit den anderen, bevor sie versuchen, auch mich in den Flieger zu bringen. Ich bin als einziger der refugees in Handschellen gelegt. Die Polizisten öffnen die Tür, die französischen Beamten warten oben auf der Rampe mit einem Steward der Air France.
«Warum trägt dieser Mann Handschellen?»
Langsam bewege ich mich nach oben, die Rampe ist in einen braunen Tunnel gehüllt, weshalb ich versuche, den Raum zwischen Rampe und Tür zu nutzen, um abzuspringen. Als wir diesen Punkt erreichen, stosse ich den Polizisten zu meiner Rechten zur Seite. Er bewegt sich wie ein Sack voll Sand und kippt beinahe um. Doch sie sind vorbereitet und drücken mich gemeinsam zurück auf den Weg, mein Rücken schmerzt wieder furchtbar. Ich beginne zu toben, den Steward anzuschreien, dass ich mit dem Piloten sprechen muss! Doch es geschieht nichts, sie zwingen mich zu meinem Sitzplatz. Die anderen refugees blicken mich fragend an: Warum trägt dieser Mann Handschellen? Ich begrüsse sie in marokkanischem Dialekt und nehme wieder zwischen den zwei Schweizer Polizisten Platz. Und warte.
Manchmal spreche ich den Steward nochmals an und verlange, mit dem Piloten sprechen zu können, doch er ignoriert mich. Ich blicke in die Gesichter der anderen und sehe die Panik in ihren Augen. Niemand hätte damit gerechnet, auf diese Weise behandelt und ausgeschafft zu werden. Wie wird unsere Zukunft sein, wenn wir dort sind – nach all dem, was wir durchgestanden hatten, bis wir endlich in Europa angekommen sind!
Während der 20 Minuten, die wir stumm da sitzen, beäugen mich die Polizisten besonders aufmerksam. Tröpfchenweise kommen auch die anderen Passagiere an Bord und verstauen ihre Koffer. Manchmal benutzen sie die Toilette im hinteren Teil des Flugzeugs, ganz in meiner Nähe, und jede*n einzelne*n frage ich, ob er*sie den Piloten für mich verlangen kann, weil ich nicht nach Marokko ausgeschafft werden will. Doch die Reaktion der Polizei kommt schnell. Sie halten mich an, den Mund zu halten und drohen mir, meinen Kopf wieder zwischen meine Beine zu drücken. Der Einsatzleiter informiert derweil die Passagiere, dass der Pilot bereits Bescheid wisse und sie nicht auf mich hören müssen. Da ich erkenne, dass es keine Chance gibt, dass der Pilot zu mir kommt, beginne ich wieder zu schreien, mit all der Energie, die mir noch bleibt. «Jemand muss uns helfen, bitte! Wir wollen nicht nach Marokko! Das…» Dann springt die Polizei wieder auf mich und drückt meinen Kopf hinunter. Mich ergreift die Verzweiflung. Niemand, wirklich niemand fragt auch nur danach, was mit uns geschieht, die Leute flüstern nur miteinander. Das ist nichts Neues, ich sehe, dass die meisten von ihnen nicht wissen, was sie tun könnten. Oder sie denken wegen der Handschellen und Polizisten, dass ich ein gefährlicher Krimineller, ein Terrorist bin.
Kapitulation
In dieser Position muss ich verharren, bis die Maschine in der Luft ist, darf mich nicht bewegen oder sprechen, ich spüre nur diesen Schmerz, mein Atem stockt. Mein Körper ist wie eingefroren. Ich sage zu mir, that’s it. Ich werde ausgeschafft. Was geschieht, wenn ich in Casablanca lande? Wie wird meine Familie reagieren, meine Freunde, wenn sie mich dort wiedersehen? Ich gebe auf, wüsste nicht, was ich noch tun könnte. Manchmal wandert mein Blick zu den anderen Opfern dieses Flugs, sie sind verzweifelt und verängstigt.
Nach zwei Stunden zückt der Einsatzleiter seinen Laptop und beginnt, jedes Detail dieser widerlichen Aktion zu protokollieren. Bevor wir am Flughafen Mohamed V in Casablanca ankommen, kommt er zu mir und händigt mir Dokumente aus, auf denen steht, was man alles für mich mitgenommen hat. Ich solle sie unterschreiben, doch ich weigere mich, weil ich zunächst einmal nicht weiss, was dort genau geschrieben steht; vor allem aber, weil es keine Rolle spielt, ob sie meine Bestätigung haben oder nicht. Eine halbe Stunde vor der Landung überreicht er mir ein letztes Papier: ein Verbot für den gesamten Schengenraum bis 2020. Dann nimmt er mir meine Handschellen ab, ich spüre, wie anders sich mein Körper plötzlich anfühlt. Dann gebe ich den schläfrigen Beamten neben mir einen Klaps ins Gesicht, mache zum ersten Mal in diesem Alptraum einen Witz: «Nicht schlafen! Wir sind noch nicht angekommen.»
Rote Erde
Nach zehn Minuten erblicke ich die rote Erde meines Landes, zum ersten Mal in vier Jahren. Der Horror, der im Ausschaffungsknast in Zürich begann – er ist real. Ich kann es nicht glauben, kneife mich immer wieder in der Hoffnung, aus diesem Alptraum aufzuwachen. Je mehr sich der Flieger dem Land nähert, desto mehr denke ich darüber nach, was ich hier tue. Ich habe immer noch nicht wirklich verstanden, was mit mir geschieht, bin traurig und wütend und bekomme keine Luft und bin doch noch am Leben und bereit dazu, meine Würde zu rächen, diese Würde, die von der Schweizer Polizei und von Air France und überhaupt von all den Beteiligten dieses Verbrechens zerstört wurde.
Endlich landen wir in Casablanca, die anderen Passagiere verlassen das Flugzeug, mich nehmen sie durch die Vordertür heraus. Ich setze mich zur Wehr, sage ihnen wieder und wieder, dass ich wenigstens durch die Hintertür hinaus will, durch die ich in Paris gekommen bin. Natürlich sehen sie, dass ich alles Mögliche versuche, um nicht in die Hände der marokkanischen Polizei zu fallen. Sie zwingen mich durch die Vordertür, und als ich endlich am Piloten vorbeikomme, frage ich ihn, wie er all das tolerieren konnte. Er erwidert nur, dass es ihm egal sei. Ich werde wütend und spucke ihm ins Gesicht – sein Glück, dass mein Mund von dieser Tortur so trocken ist. Die marokkanische Polizei fordert mich auf, runterzukommen. «Es ist vorbei. Mach es nicht schlimmer.»
Sie nehmen uns in diesem Land auf, anders als früher, als sie Passagiere ohne Papiere nicht akzeptiert haben. Vielleicht haben sie einen neuen Vertrag mit der EU ausgearbeitet, das verstehe ich wenigstens aus den Gesprächen der Polizisten. Ein Vertrag, der die marokkanischen Behörden dazu bringt, nicht dokumentierte Geflüchtete mit irgendeinem Laissez-Passer anzunehmen. Das ist überhaupt nicht gut.
Sechs Stunden Verhör
Ich warte in einem Verhörraum am Flughafen und werde während sechs Stunden ausgequetscht, jedes einzelne Detail über mein Verbleiben in den letzten vier Jahren ausserhalb Marokko muss ich preisgeben. Wo habe ich gelebt? Was habe ich gemacht? Wie war mein Asylverfahren in der Schweiz? Was für eine Aktion war das? Diese letzte Frage verängstigt mich besonders, meine Kleider sind schweissgetränkt. Ich kann an dieser Stelle nicht darüber sprechen, aber jede*r kann meine treuen Freund*innen in Zürich fragen, was geschehen ist.
Während diesen sechs Stunden sehe ich immer mehr refugees, die aus dem gesamten EU-Raum ausgeschafft wurden; alleine 20 an der Zahl sind es während meiner Befragung. Später werde ich sie draussen wiedersehen, mit ihren Laissez-Passers in den Händen, die als temporäre ID gelten, bis sie wieder marokkanische Papiere haben. Jemand von ihnen sagt mir, dass er sofort zurück nach Tanger im Norden des Landes fährt, um ein Boot in Richtung Spanien zu finden. Er kann nicht zu seiner Familie zurück; seine Eltern sind gestorben, als er noch jung war.
Andere sitzen nur da und rauchen, soviel sie können, bis in den Morgen hinein, immer noch schockiert von dem, was sie in den letzten 24 Stunden durchgemacht haben. Auch ich kann mich nicht bewegen, bis ich einmal übersetzt habe, dass dieser Alptraum jetzt Realität ist. Mit einigen Münzen in meiner Tasche rufe ich meine Mutter an, es reicht nur für zehn Sekunden. Ich fahre zu ihnen, zurück zu meinen Eltern und meiner Schwester, um sie so unverhofft wiederzusehen, mit nichts an meinem Körper ausser Schmerzen und einer traurigen Seele. «Es tut mir Leid, Mutter, ich konnte meine Träume nicht verwirklichen, meine Freiheit nicht leben. Ich habe alles versucht, aber sie haben mich nicht in Frieden gelassen.» Wir beginnen beide zu weinen. Später rufe ich mit dem Handy meiner Schwester meine Freundin in der Schweiz an, sage ihr, dass ich ausgeschafft wurde. Ich kann nicht aufhören zu weinen beim Gedanken daran, wie es ihr mit dieser Information geht. Ich suche nach Worten, um meine Gefühle auszudrücken, doch ich finde sie kaum.
Das letzte, was ich an dieser Stelle sagen will, ist folgendes. Diese Gewalt gegen meine Bewegungsfreiheit wird mich nicht davon abhalten, es wieder zu versuchen. Die Welt ist gross, und ich werde sie entdecken. Wenn die Grenzen und Nationalstaaten es einigen Menschen verunmöglichen, legal zu reisen… dann werden dieselben Menschen andere Wege finden, illegal zu reisen.
NO BORDERS, NO NATIONS – STOP DEPORTATIONS!
Übersetzung aus dem Englischen: Rosa la Manishe
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