7. Juni 2024 Swara und Nyoni (Name der Redaktion bekannt)

Das Leben gibt uns manchmal Zitronen …

… aber Du musst Limonade daraus machen.
Schwedische Talentscouts bringen einem jungen Kenianer das Kartenlesen bei. Diesen veschlägt es in die Schweiz, wo er an einem Orientierungslauf teilnimmt. Aus der Schweiz wird er nicht mehr rausfinden.

Ich nenne mich hier vorläufig Swara und erzähle meine Geschichte. Swara ist Swahili und bedeutet «Antilope». Eine Antilope wird nie dick, weil sie immer Angst hat, gefressen zu werden, und deswegen nicht ruhig fressen kann; weil sie immer auf Draht sein muss, um bei Gefahr das Weite zu suchen. Swara nenne ich mich hier, weil dieser Name zum Leben passt, das ich lange führen musste.

Die Leute aus Schweden, die nach Nairobi kamen, hätten nicht unbedingt auf mich aufmerksam werden müssen. Sie hatten gedacht: In Kenia können die Leute so lang und so schnell rennen wie sonst nirgends. Wenn wir ihnen jetzt noch beibringen, Karten zu lesen und den Kompass zu benutzen, hätten wir die weltweit besten Orientierungsläufer:innen gescoutet …

Damals, als jene schwedischen Talentscouts kamen, war ich ein Teenager und brachte mich als Kleinhändler in Nairobi durch. Das ist hart und schwierig und in Kawangware, wo ich lebte, noch einmal etwas härter und schwieriger. Aber immerhin gab es auch dort junge Menschen, die sich sportlich messen und trainieren wollten. Und in unserem lokalen Leichtathletikclub sollten uns dann eben jene Schwed:innen entdecken. Sie lehrten uns, Karten zu lesen und nach dem Kompass zu laufen. Und wir wollten Schweden sehen, erhielten auch eine Einladung, aber keine Flugtickets bezahlt. Wir wollten weg.

Ich ging an einen Ort, wo ich Internet hatte, und recherchierte. Ich las von der SOW, der Swiss Orienteering Week, und dass sie 2006 in Zermatt stattfinden würde. In der Schweiz. Schweiz oder Schweden, das war doch egal. Ich schrieb also eine Mail und erzählte von unseren erworbenen Orientierungslauf-Kenntnissen und bewarb mich mit unserem Team. Und wir wurden eingeladen. Zwei Personen, diesmal mit Flugtickets, Unterkunft, Essen, Startgeld – alles inklusive.

So kam es, dass eine kenianische Läuferin und ich, Swara, mit einem Sportvisum für zwei Wochen in Kloten ankamen und nach Zermatt weiterfuhren. Ich verliebte mich auf der Stelle in die Schweiz. Das Matterhorn vor Augen liefen wir, zum Schwarzsee, zur Sunneggä … Wir waren zwei von 3’800 Teilnehmenden am SOW. Wir waren schnell, gehörten wohl zu den schnellsten. Aber orientierungsmässig waren wir offenbar nicht so top. Wir kamen jedenfalls nicht auf das Podest. Und dann war die Zermatter Orienteering Week vorbei. Und ich verliebt in die Schweiz und ohne jede Lust zurückzukehren. Ich hatte die Adresse eines Bro in Genf, fuhr zu ihm und sagte ihm, ich möchte hierbleiben und mein Glück versuchen. Genf war auch schön, aber mein Visum nach zwei Wochen eben abgelaufen. Nach einiger Zeit meinte der Bro, ich sei jetzt illegal hier, und er käme in Schwierigkeiten, wenn sie mich kontrollierten, und schlug vor, ich solle doch Asyl beantragen. Das tat ich und wurde nach Vallorbe geschickt. Ich erhielt einen negativen Entscheid: In Kenia gebe es keinen Krieg und keine Probleme, es sei sicher dort.

Ich wurde nach Zürich zugeteilt und geriet in das damalige Regime der «Dynamisierung » abgewiesener Asylbewerbender: Wir erhielten die 8.60 Franken Nothilfe pro Tag in Form von Migros-Gutscheinen (mit denen wir ja keine Fahrkarten kaufen konnten), und das erst, nachdem wir uns ordnungsgemäss in den Notunterkünften gemeldet hatten, um immer wieder «dynamisch» eine neue Unterkunft zugeteilt zu bekommen (wohl damit wir keine Beziehungen aufbauen, pflegen und unterhalten konnten). So lernte ich das Kasama kennen, wo wir die Gutscheine in Bargeld tauschen konnten, und Uster und Kemptthal und Adliswil. Ich kam im Kanton herum, lernte andere Betroffene kennen und die Menschen in der Bleiberechtbewegung. Wir besetzten die Predigerkirche und begannen die ASZ. Und ich entdeckte mein Löwenherz und vergass zu Zeiten etwas: genügend vorsichtig und wieder Swara zu sein.

Das lehrten mich die Polizeikontrollen, die mein Verbrechen verrieten: illegal (hier) zu sein. Ich war immer wieder im Gefängnis. In den Jahren 2009 bis 2011 die meiste Zeit, mehr als ein Jahr lang immer wieder in verschiedenen normalen Gefängnissen und mehr als 18 Monate in Kloten in Ausschaffungshaft. Sie wussten, wer ich war und machten Druck: «Du musst die Schweiz verlassen. Du bist illegal. Hier ist unsere Welt, nicht deine Welt …»

Zwischen meinen Gefängnisaufenthalten war ich ein Teil der ASZ. Hier engagierte ich mich. Hier lernte ich Deutsch. Eine Aktivistin erarbeitete mit uns die deutschen Bezeichnungen für unsere Körperteile: das Bein, der Arm, die Hand, der Kopf, das Ohr, die Stirn, die Nase ... Unsere Augen hätten sich nicht unbedingt treffen müssen. Aber sie trafen sich, und wir waren im Himmel. An jenem Abend gingen wir zusammen an ein Konzert. Und schon am nächsten Tag hörte ich einmal mehr die Aufforderung «IHR AUSWEIS BITTE» und landete in der Pöschwies. Aber dort kriegte ich Besuch: von meiner Geliebten. Immer wieder besuchte sie mich. Sie begleitete mich und suchte uns eine Anwältin, die uns helfen sollte, gemeinsam ein Leben führen zu können. Sie erreichte, dass ich meinen kenianischen Pass bekam. Und so konnten wir im Sommer ausreisen, in Kenia heiraten und dann wieder in die Schweiz einreisen: mit gültigen Papieren. Ich bekam B und nach weiteren fünf Jahren C … endlich.

Eigentlich hätte ich gerne noch Schreiner gelernt. Aber ich hatte keine Chance. Ich habe als Bodenleger, als Frachtumlader und immer wieder in Wäschereien gearbeitet. Zurzeit sorge ich hoch über Zürich dafür, dass reiche Menschen sauber aussehen. Damit verdiene ich mein Geld, für mich und meine Kinder. Ich zeige cool und ohne Angst vor Handschellen meinen Ausweis, wenn ich ihn vorweisen soll. Ich bin nicht mehr gejagt. Und deswegen bin ich auch nicht mehr Swara. Ich bin jetzt Nyoni: ein Vogel, der frei ist und sein Nest auf einem Baum macht. Ich darf (hier) leben. Ich habe gekämpft. Die Schweiz ist meine zweite Heimat geworden.

(Aufgezeichnet von Paul Leuzinger)

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