24. Mai 2020 K. A.
Als Kind habe ich in der Schule gelernt, Demokratie bedeute, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben. Aber in einem diktatorischen Land gibt es Gleichberechtigung nur auf dem Papier. Im realen Leben der Völker in den Ländern des Nahen Ostens existiert Gleichberechtigung nicht. Unsere Regierungen schaffen das Gegenteil von Gleichheit. Das heisst, einige wenige besitzen fast alles, und das normale Volk leidet unter einer schrecklichen Realität. Die Demokratie im Nahen Osten funktioniert nicht, weil Nationalismus und die Überschneidung von Religion und Politik immer noch eine sehr grosse Rolle spielen, und weil man seine Meinung nicht frei sagen kann.
Normalerweise sollte Demokratie Frieden und eine erfolgreiche Entwicklung eines Landes ermöglichen. Doch die Realität sieht anders aus. Millionen von Menschen haben den Kampf für Demokratie und Gleichberechtigung mit ihrem Leben bezahlt. Viele haben Familienmitglieder verloren. Das sieht man erschreckend deutlich in Syrien. Das syrische Volk war nicht zufrieden mit der diktatorischen Regierung und im Zug des Arabischen Frühlings explodierte die Frustration 2011. Im ganzen Land gab es Proteste. Die Leute haben friedlich demonstriert. Sie wurden bedroht, beschossen und ins Gefängnis gebracht.
Die Regierung begann, Leute zu töten. Das war der Beginn des Krieges. Seither, in den vergangenen neun Jahren, hat das syrische Volk mit unsagbarem Leid und Tod dafür bezahlt, dass es zum Spielball der Interessen von Weltmächten geworden ist.
Die Leute haben friedlich demonstriert. Sie wurden bedroht, beschossen und ins Gefängnis gebracht.
Das war der Beginn des Krieges.
In den letzten zwei Jahren ist die Lage klarer geworden. Jetzt herrscht nicht mehr Krieg zwischen kleineren Gruppen untereinander. Der Krieg hat internationale Dimensionen angenommen. Alle benutzen das syrische Volk für ihre eigene Agenda. Neben dem Machthaber Assad sind auch Grossmächte wie die Türkei, Russland, USA und Iran involviert, sowie Terroristen des IS, die wiederum von der Türkei und Saudi-Arabien unterstützt werden. Alle möchten einen möglichst grossen Teil des Kuchens haben. Dabei geht es um Macht, Einfluss und Kriegsgeschäfte. Das ganze Blutvergiessen, die ganze Gewalt, sie nützen nur den Machthabern. Ich habe aufgehört nachzuschauen, wie viele Menschen täglich in Syrien sterben.
Erdogans Angriff auf die Kurd*innen
Was Ende 2019 im kurdischen Teil Nordsyriens passiert ist, war absolut barbarisch. Die Türkei, eines derjenigen Länder im Nahen Osten, die von sich behaupten, demokratisch zu sein, hat unzählige Ortschaften an der türkisch-syrischen Grenze bombardiert, auch Schulen und Spitäler. Genauso wie Assad die Syrer*innen bombardiert hat. Die Zivilist*innen konnten sich nicht schützen. Hunderttausende von Menschen mussten flüchten. Dieser Angriff Erdogans richtete sich gezielt gegen die Kurd*innen. Unter dem Deckmantel des «Kampfes gegen den Terror» errichte Erdogan in Nord-Ost-Syrien seine «Sicherheitszone».
Im Gegensatz dazu stellte es für Erdogan und seine Regierung kein Problem dar, als der IS einen grossen Teil desselben Gebietes 2013 bis 2016 besetzt hatte. Erst als dann die Kurd*innen nach ihrem Kampf gegen den IS die ganze Grenze kontrollierten, erwachte Erdogan und tat alles, um den Kurd*innen ihre Autonomierechte wieder wegzunehmen. Seine Ausrede ist, dass die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG, YPJ und die in der Türkei aktive Arbeiter*innenpartei Kurdistans PKK zwei Seiten der gleichen Münze sind.
Im eigenen Land gelang es der türkischen Regierung während 40 Jahren nicht, die kurdische Unabhängigkeitsbewegung zu zerstören. Erdogan, der seit 2002 an der Macht ist, versucht die Freiheitsbewegung des kurdischen Volkes mit aller Macht zu ersticken. Das passiert nicht nur in der Türkei, sondern auch in Syrien. Diese Bombardierungen seit letztem Herbst waren und sind nur der jüngste Angriff auf die Kurd*innen. Denn auch früher wurden sie in Syrien, genau wie überall sonst, nicht in Ruhe gelassen. Es ist, als ob die Kurd*innen als Ausländer*innen in ihrem Heimatland geboren wären.
Normalerweise sollte Demokratie Frieden und eine erfolgreiche Entwicklung eines Landes ermöglichen. Doch die Realität sieht anders aus.
Wer diese Situation nicht erlebt hat, kann sich nicht vorstellen, wie schwer es ist, fremd zu sein im eigenen Land. Bis vor dem Krieg war es sogar streng verboten, Kurdisch zu sprechen und zu lernen oder einem neugeborenen Kind einen kurdischen Namen zu geben. Auch wer kurdisches Radio hörte oder kurdisches Fernsehen schaute, riskierte, ins Gefängnis zu kommen. Und es kam vor, dass Studenten und Studentinnen, die im öffentlichen Raum kurdisch gesprochen hatten, deswegen zu Tode geprügelt wurden.
Unterdrückte Minderheiten
Man muss sich einmal vorstellen, keine Weihnachten feiern zu dürfen. Bis in die 90er Jahre hatten die syrischen Kurd*innen dafür gekämpft, den Newroz-Tag (Neujahr) feiern zu dürfen. In Syrien ist man gemäss Ausweis Bürger*in der «Syrisch-Arabischen Republik», auch wenn man selbst nicht Araber*in ist. Es ist lebensgefährlich, als Politiker über das Thema Kurd*innen zu sprechen. Wer sich politisch für die Kurd*innen einsetzen wollte, musste das im Geheimen tun und sich verstecken. Im syrischen Militär durften Kurd*innen nur bis zu einem bestimmten Dienstgrad befördert werden.
Wer etwas verändern möchte, kommt ins Gefängnis oder bezahlt mit seinem Leben.
Reich können Kurd*innen bis heute nicht werden. Solange die Kurd*innen aber keine höhere Bildung erlangen und auch keine einflussreichen Parteien und Lobbys bilden können, und solange wichtige kurdische Politiker*innen immer wieder ermordet werden, ist es sehr schwierig, dass ihr Kampf für Bürgerrechte an Kraft gewinnen kann. Und wer etwas verändern möchte, kommt ins Gefängnis oder bezahlt mit seinem Leben.
Jeder einzelne Kurde und jede einzelne Kurdin hat Rassismus und Diskriminierung persönlich erlebt, obwohl im Gesetz steht, dass alle Menschen gleich behandelt werden müssen. Auch ich persönlich habe viel Schlechtes und Schwieriges erlebt. Darum bin ich zum Schluss gekommen, dass die Demokratie im Nahen Osten eine grosse Lüge ist. Das Reden von Demokratie nützt den Menschen nichts. Die Kurden wurden nie gleich behandelt wie die Mehrheit im Land. Obwohl das kurdische Volk etwa 40 Millionen Menschen in der ganzen Welt zählt, haben diese Menschen nicht die gleichen Rechte. Auf politischer Ebene hat der Vertrag von Lausanne 1923 diese problematische Situation zementiert (siehe unten).
Es gibt in der Welt viele kleine Regionen, die Autonomie erlangt haben, so etwa der Kanton Jura in der Schweiz. Gleichberechtigung aller Menschen existiert im Nahen Osten aber nicht. Das gilt auch für alle anderen Minderheiten wie die Armenier*innen, die assyrischen Christ*innen oder Jesid*innen. Die Geschichte der Länder im Nahen Osten ist sehr kompliziert und unübersichtlich. In einem einzelnen Artikel ist es unmöglich, alle Zusammenhänge zu erklären.
Durch den Krieg habe ich erlebt, dass Demokratie im Nahen Osten eine grosse Lüge ist und auch nicht Realität werden kann, so lange diese diktatorischen Machtspiele andauern, die von den mächtigen Ländern der Welt unterstützt werden. So lange wird es keine Freiheit und keinen Frieden geben.
Fast hundert Jahre Unterdrückung der Kurd*innen
Die grosse Hoffnung der Kurd*innen auf politische Freiheit wurde 1923 mit dem Vertrag von Lausanne enttäuscht. Nachdem das riesige Osmanische Reich auseinandergebrochen war, hatten Grossbritannien, Frankreich und Russland den Kurd*innen im Vertrag von Sèvres das Recht auf Selbstbestimmung versprochen. Dann aber kam der von Kamal Atatürk geführte türkische Unabhängigkeitskrieg. Das Abkommen von Sèvres trat nie in Kraft. Im neu verhandelten Vertrag von Lausanne (1923) war von einer kurdischen Autonomie dann keine Rede mehr, denn der Vertrag wurde von den Siegermächten im Ersten Weltkrieg und den türkischen Nationalisten geschrieben. Den Kurd*innen wurde kein eigenes Gebiet gegeben. Ihr Land wurde auf vier grosse Staaten verteilt (Türkei, Syrien, Irak und Iran). Seither leben die knapp 40 Millionen Kurd*innen in den jeweiligen Staaten als unterdrückte Minderheit.
Seit 1923 gab es immer wieder Konflikte mit den Regierungen der jeweiligen Länder, welche die Rechte der Kurd*innen, wie etwa die eigene Sprache, nicht anerkennen. Der erste Aufstand der Kurd*innen fand 1925 kurz nach dem Lausanner Vertrag statt. Unter der Führung von Scheich Said eroberten die Kurd*innen in der Türkei für kurze Zeit ein kleines Gebiet. Später wurde der Aufstand von Kamal Atatürk niedergeschlagen und Scheich Said wurde gehängt.
Seit mindestens hundert Jahren kämpfen die Kurd*innen für Freiheit. Leider haben sie bis jetzt die Gleichberechtigung nicht erreicht. Denn die mächtigen Länder lassen sie immer wieder im Stich.