2. Juli 2019 Osama Abdullah

Der Kampf gegen Migration: Wie Europa den Krieg exportiert und seine Grenzen auslagert

Wo Marokko die europäische Grenze abschottet. (Karte: NORM)

Die mit europäischen Geldern finanzierte Repression trifft Migrant*innen in Marokko hart.

Am 30. November 2018 wurde Oussman in Tangier auf dem Heimweg von einem gemeinsamen Abend mit Freunden von der marokkanischen Polizei angehalten und dazu aufgefordert, sich auszuweisen. Oussman hatte keine Papiere. Seit er Nord mali verlassen hatte, lebte er mittlerweile schon seit einem Jahr in Tangier und hoffte, es eines Tages über die berüchtigte westliche Mittelmeerroute nach Europa zu schaffen.

Die westliche Mittelmeerroute birgt gefährliche Tücken für alle, die es lebend durch die Sahara bis nach Marokko geschafft haben, wo die Staatsgewalt auf willkürliche Razzien setzt. Von Marokko aus wollen migrierende Menschen in den Norden, meist nach Tangier. Dort haben sie zwei Optionen: Entweder klettern sie bei Ceuta und Melilla über den weltweitam besten gesicherten Stacheldrahtzaun oder sie überqueren das Mittelmeer in nicht seetüchtigen Booten Richtung Spanien. Von Hunderten schafft es gerade einmal eine Handvoll, den Grenzzaun zu erklettern und nach Europa zu springen. Diese erleiden dabei oft schwere Verletzungen durch den Stacheldraht und den Sprung aus grosser Höhe. Und auf See erreichen die Hilfeschreie der in Seenot Geratenen eventuell nur taube Ohren. Nach Angaben der IOM (Internationale Organisation für Migration) hat sich die Anzahl der im westlichen Mittelmeer Ertrunkenen 2018 im Vergleich zu 2017 verdreifacht. Die meisten Boote schaffen es nicht, spanische Gewässer zu erreichen, und geraten in Seenot. Sie bitten gewöhnlich die spanischen Behörden um Hilfe, doch diese verneinen ihre Zuständigkeit und geben die Hilferufe an die marokkanische Marine weiter. Nach Berichten von Aktivisten von Alarmphone und einer spanischen Aktivistengruppe unter der Leitung von Helena Maleno lassen sich die marokkanischen Behörden meist viel Zeit mit ihrer Reaktion.

Später an jenem 30. November fand sich der nichtsahnende Oussman in einer Gefängniszelle vor, zusammen mit zwei anderen migrantischen Menschen aus der Subsahara. Im Laufe der Nacht füllte sich die zehn Quadratmeter grosse Gefängniszelle mit immer mehr Menschen, die alle eine Gemeinsamkeit hatten: keine Papiere. Am nächsten Tag wurde Oussman zusammen mit 30 Personen in einen Bus gesperrt, der Richtung Süden fuhr. Während der beschwerlichen 20-stündigen Busreise an die Südgrenze waren sie mit Handschellen gefesselt.

Das Alarmphone klagt an

Im Bus war auch ein anderer Migrant aus der Subsahara, der für das Alarmphone aktiv ist. Das Alarmphone ist ein Projekt, das in Seenot geratenen Menschen eine zusätzliche Möglichkeit gibt, SOS-Hilferufe zu empfangen und zu beantworten. Er war nicht der erste Alarmphone-Aktivist, der festgehalten und in den Süden des Landes deportiert wurde. Mit einer Reihe von Stellungnahmen und Posts auf sozialen Medien verurteilte die Organisation die Verhaftung und Deportation ihrer Aktivist*innen in Marokko. Im Laufe des Jahres 2018 wurden bei verschiedenen Gelegenheiten mehr als fünf Aktivist*innen verhaftet, in Busse verfrachtet und in den Süden des Landes deportiert, knapp 1000 Kilometer von Tangier entfernt.

Die Anzahl der im westlichen Mittelmeer Ertrunkenen hat sich 2018 im Vergleich zu 2017 verdreifacht. Die meisten Boote schaffen es nicht, spanische Gewässer zu erreichen, und geraten in Seenot.
Diese Strategie einer Deportation von migrierenden Menschen in den Süden ist nicht neu. Sie wird von den marokkanischen Behörden seit 2015 angewandt. Aber die Anzahl der Fälle erreichte während und nach dem Sommer 2018 ein Maximum.Wohl nicht zufällig zu einer Zeit, in der die marokkanischen Behörden unter dem Druck der EU die Migration über die westliche Mittelmeerroute mit eiserner Faust verhindern wollten.

Aktivist*innen und Betroffene berichten vom Verlust ihrer Habseligkeiten wie Handys, Geld und Kleidern. In einigen Fällen sei es zu Sabotageakten, Vandalismus und der Zerstörung von Strukturen wie Lebensräumen oder sozialen Netzwerken gekommen, die sich migrierende Menschen in Tangier aufgebaut hatten.

«In Tangier ein Mensch aus der Subsahara zu sein, genügt der Polizei als Grund, dich zu verhaften, dich in Handschellen zu legen und dich in einen Bus Richtung Süden zu stecken, 1000 Kilometer vom Meer entfernt», sagte mir Abdel-Rahman, ein Migrant aus Ghana, der in Tangier gelebt hat und jetzt in Spanien ist.


Das Königreich Marokko hat im vergangenen Jahrzehnt mehr als hundert Millionen Euro an europäischen Steuergeldern erhalten, um die Migration aufzuhalten.


Aber es bleibt nicht bei Razzien. Alarmphone hat über zahlreiche Menschenrechtsverletzungen berichtet, die sich in Marokko zugetragen haben. Sie reichen von Vertreibung über verbalen und physischen Missbrauch bis zur Verhinderung von Demonstrationen von Gruppen von Migrant*innen, welche die Nase vollhaben von all den Polizeirazzien und Misshandlungen, die sie in Marokko erleiden.

Dazu kommt, dass die Bilanz von Marokkos «Integrations»-Bemühungen von migrantischen Gemeinschaften miserabel ausfällt. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit befeuert rassistische Gefühle und nährt den Hass gegen fremde Migrant*innen, die aus ihren Ländern vor Verwüstung, politischen Krisen und bewaffneten Konflikten geflüchtet sind.

Mehr als 100 Millionen Euro in zehn Jahren

Es steht im Widerspruch zum Willen von Millionen von europäischen Bürger*innen, die mit Menschlichkeit und Würde auf die Migrationskrise antworten möchten, wenn das Königreich Marokko im vergangenen Jahrzehnt mehr als hundert Millionen Euro an europäischen Steuergeldern erhalten hat, um die Migration aufzuhalten, und Marokko so zu einem Schlüsselkomplizen solcher Bemühungen gemacht wurde. Berichte von Menschenrechtsverletzungen, die sowohl Migrant*innen wie auch marokkanische Bürger*innen betreffen, zeigen dieses Land als riskanten Partner der EU. Aber nach Aussage der Sprecherin der Europäischen Kommission, Mina Andreeva, ist Europa bereit, diese Taktik auszubauen:
«Wir sind uns des von Marokko erwarteten Bedarfs voll bewusst. Er erfordert einen viel höheren finanziellen Aufwand, und wir sind bereit, ihn zu liefern», liess sich die Sprecherin im August 2018 vernehmen.


Niemand vertraut seine Kinder oder sich selbst dem offenen Meer an, wenn das Land sicher ist. Das ist eine Realität, die viele in der EU nicht sehen wollen.


Während Italiens Regierung und andere Kräfte innerhalb der EU die humanitären Bemühungen der Seerettungsorganisationen, etwa der Sea Watch oder der MSF (Médecins sans Frontières), zu kriminalisieren und zu verhindern versuchen, stellt die EU 55 Millionen Euro zur Durchsetzung ihrer Pläne bereit, um ihre Aussengrenzen zu externalisieren. Nach Aussage des früheren Präsidenten des Europäischen Parlaments und amtierenden spanischen Aussenministers Josep Borrell soll die Hälfte dieser Mittel zur «Entschärfung der gegenwärtigen Zustände in Marokko» verwendet werden.

Auf der anderen Seite förderte die Schweiz, repräsentiert durch ihren Botschafter in Marokko, Jürg Lauber, die Ausarbeitung des multilateralen Abkommens Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration. Dieses unverbindliche Abkommen wurde in Anwesenheit von Vertretern von 164 Ländern in Marakkesch in Marokko unterzeichnet. Es enthält zehn Leitsätze und 23 Zielvorgaben. Die Leitsätze enthalten etwa nachhaltige Entwicklung, Rechtsstaatlichkeit und rechtsstaatliche Verfahren und nationale Souveränität. Im Abkommen formulierte Ziele wie die Bekämpfung des Menschenschmuggels, Grenzmanagement und Erleichterung von Rückkehr dienen jedoch letztlich der Legitimation der bestehenden Repressionspolitik.

Als 2017 die Existenz libyscher Sklav*innenmärkte enthüllt wurde, versprach der Präsident Frankreichs, Emmanuel Macron, Notfallaktionen zur Rettung von Migrant*innen. Und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Junker behauptete, er könne nachts nicht schlafen mit diesem Wissen im Kopf. Allein die Sprache hat sich ebenso wenig geändert wie die Aktionen. Der Versuch, die Migrationskrise zu bewältigen, der als Krieg gegen Unmenschlichkeit daherkam, hat sich als nichtig herausgestellt. Er kommt höchstens dem Privatsektor zugute, indem er den Sicherheitsagenturen weit die Türen öffnet und ihnen ermöglicht, etwas dazu zu verdienen, während andere, besonders jene, die in die Migration getrieben werden, unter prekären Bedingungen leben. Nach Aussage des Reports Expanding the Fortress (Ausweitung der Festung) des holländischen Forschers Mark Akkerman haben mindestens 35 Länder die finanzielle Unterstützung der EU priorisierend für die Militarisierung ihrer Grenzen eingesetzt. Der EU-Notfallfonds für Afrika (Emergency Trust Fund for Africa) hat zwar fünf strategische Ziele festgelegt, aber ein Grossteil der Gelder fliesst in Projekte mit dem Ziel eines «verbesserten Migrationsmanagements». All diese Länder sind wohlgemerkt Hochrisikogebiete, was Menschenrechte angeht.

Die berührenden Worte des britisch-somalischen Dichters Warsan Shire sprechen Bände:
«Niemand setzt seine Kinder in ein Boot, wenn das Wasser nicht sicherer ist als das Land.»
Es ist so: Niemand vertraut seine Kinder oder sich selbst dem offenen Meer an, wenn das Land sicher ist. Das ist eine Realität, die viele in der EU nicht sehen wollen. Trotz dem, was die gegenwärtig zurückgegangene Zahl der Ankommenden vorgaukelt und trotz der falschen Narrative, die sie hervorbringt, haben die angewandten Massnahmen der EU die «illegale» Migration nicht aufgehalten, und sie werden sie nicht aufhalten. Diese Zahlen werden von EU-Funktionären gefeiert. Jene gestehen sich aber schwerlich ein, dass der kurzfristige Rückgang der Ankommenden einer Zunahme der Todesrate und einem schreienden Anstieg von Menschenrechtsverletzungen zu verdanken ist. Das Fehlen von angemessenen Lösungen jenseits der Logik der Nationalstaaten und ihrer hartherzigen Souveränität, das Fehlen von offenen und sicheren Fluchtwegen für bedrohte Menschen, hat einen hohen Preis.

Bei ihrem Streben nach einem besseren Leben für sich selbst und für ihre Kinder, nach einem Leben ohne Gewalt und Armut, werden Menschen gezwungen, immer gefährlichere Fluchtwege zu gehen und ihr Leben von Schlepper*innen und faschistischen Grenzpolizist*innen abhängig zu machen.

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