4. Juni 2024 Hüseyin Edemir

Der letzte Brief an dich

Ein Vater schreibt seiner geliebten Berçem Briefe und berichtet, wie ihre gemeinsame Tochter aufwächst. Etwas aber hat er ihr all die Zeit vorenthalten.

Meine Berçem

Diesen letzten Brief an dich zu schreiben, ist genauso schwierig wie der erste, aber jetzt ist es unvermeidlich. Ich muss dir die Wahrheit gestehen, die nackte Wahrheit. Atme tief durch, stell dir vor, du bist an einem Ort mit einer wunderschönen Aussicht, und hör ruhig zu. Erinnerst du dich daran, was ich dir vorgestern geschrieben habe? Ich zitiere:

«Siehst du, wie die Zeit vergeht? Übermorgen wird unsere Tochter 16. Sie ist wirklich schön. Ihre braun-grünen Augen sind wundervoll anzusehen. Vorgestern hat ihr Lehrer mich angerufen und über Peri geklagt. Es war aber nicht schlimm. Sie bekommt immer gute Noten – vielleicht nicht immer, aber meistens. Einmal ein kleiner Streit, aber das macht nichts. Wenn du hier wärst, würdest du strenger sein und mit ihr ein ernsthaftes Gespräch führen, aber ich mache es anders. Ich frage sie nur, was passiert sei. Als Geburtstagsgeschenk habe ich ihr einen multifunktionalen Rucksack gekauft. Du erinnerst dich, wie viele Jahre es her ist, seit du gegangen bist, nicht wahr? Ich vergesse alles, aber das nicht.»

Immer ist auch der erste Schultag unserer Tochter in meinem Kopf. In einem vor Jahren geschriebenen Brief erzählte ich dir davon. An diesem denkwürdigen Tag brachte ich unsere Peri zur falschen Schule. Was für ein Papa ich bin! In allen Briefen schrieb ich vor allem über unsere Tochter. Da du nicht sehen konntest, wie Peri grösser wurde, wollte ich dir ihre Entwicklung in jedem Schritt beschreiben. Jeden Geburtstag, Schulerlebnisse, Reisen …

Jedoch, meine Liebe, es gibt jenen einen Tag, den ich niemals vergessen werde. Als die Welt stehenblieb und ich mit ihr. Kommen wir also zur Wahrheit – zur nackten, schmerzhaften Wahrheit, die jeden Tag meine Haut verbrennt. Lass uns zu jenem Tag zurückkehren, zu jenem Tag, der sich über Jahre zog und in dem ich gefangen bin. Lass mich dir die Wahrheit erzählen und meine Briefe beenden.

Wir alle versuchten, uns auf der einen Seite des Schlauchbootes zu sammeln, weil die andere Seite Luft verlor. Ich versuchte, so lange wie möglich auf dem Boot zu bleiben. Peri hielt ich in meinen Armen und versuchte gleichzeitig, auch dich so lange wie möglich auf dem Boot zu halten, indem ich deine Hand umklammerte. Aber du weisst, wie gefährlich die Ägäis ist. Ihre Schönheit mag blenden, aber ihre Winde und Wasser bergen den Tod. Ich weiss nicht, wie lange es dauerte. Plötzlich waren wir auf hohen Wellen. Hinauf und hinunter. Es schien, als gäbe es weder Land noch Himmel, nur ein Universum aus Wasser. Ich umarmte Peri und versuchte, sie mit meinem Körper zu wärmen. Meinen Rucksack nahm ich nie ab. Nie. Weil er Wasser enthielt. Weil er Essen enthielt. Ohne den Rucksack hätten wir nicht überleben können. Ich rief ständig nach dir. Ständig: Berçem, Berçem, Berçem! Deine Schwimmweste war die teuerste. Für eine sichere Reise hatten wir tagelang wie Sklaven geschuftet, um uns erstklassige Rettungswesten zu leisten, Wir wussten ja, wie viele Menschen wegen gefälschter Westen gestorben sind, erinnerst du dich?

Strömungen und Wind waren zu stark. Die Menschen wurden immer weiter auseinandergetrieben. Ich rief noch lange, um mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Und um Peri wach zu halten, stupste ich sie immer wieder an. Ich versuchte auch, so gut es ging, in eine Richtung zu schwimmen, um Land zu erreichen und dem Wasser zu entkommen. Und so geschah es dann auch. Nachdem die Sonne zweimal über uns auf- und untergegangen war, erreichten wir eine kleine, felsige Insel mit ein paar Büschen. In der Ferne waren andere Inseln zu sehen. Ich kletterte die Felsen hoch, so hoch ich konnte. Peri wartete unten. Von dort oben blickte ich mich um und sah blaues Wasser, blauen Himmel und ein windstilles, ruhiges Meer. Ich schaute und schaute und suchte dich. Dann schrie ich, so laut ich konnte: Berçem, Berçem, Berçem! Dann weinte ich. Ich weinte und weinte, still und leise. Nachdem ich meine Tränen getrocknet hatte, kehrte ich zu Peri zurück. Seit diesem Tag habe ich deine Haut nicht mehr berührt, habe die Lieder unserer Jugend nicht mehr gehört. Und Peri? Ich habe dir jeden Tag in jedem meiner Briefe von ihr erzählt: von ihrem Haar und ihren Augen, wie sie wuchs, von ihren Abenteuern. Ich schrieb dir alles. Ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen ...

Lass mich dir auch diesen Teil erzählen. Eines Tages sah ich eine Yacht, die in der Nähe der Felseninsel vorübersegelte. Ich schrie, schrie, schrie. Ich flehte, flehte, flehte. Sie kamen näher. Sie warfen uns Wasser und Brot zu. Sie kamen so nah, wie es ihnen möglich war. Ich zeigte auf Peri. Sie sahen mich an. Wir konnten uns in keiner Sprache verstehen und verständigen. Einer schrie mich an. Ich sagte, sie sei meine Tochter. Er wurde noch lauter. Und schliesslich warfen sie den Anker aus. Dann stiegen sie in ein kleines Boot und nahmen zuerst Peri und dann mich mit auf die Yacht. Sie gaben uns Wasser und Essen und brachten uns zur nächsten Insel. Am Hafen wurden wir von der Polizei empfangen. Ich dankte ihnen hunderte, tausende Male dafür, dass sie unser Leben gerettet hatten. Und irgendwie glaubte ich, dass ich dich erreichen würde. Schliesslich war unsere Tochter gerettet.

Nach der Registrierung auf der Insel fragten sie, ob es einen Unfall gegeben hätte. Ich berichtete. Ich sprach am Telefon mit einem Dolmetscher und erzählte. Dann führten sie mich in ein Krankenhaus. Wir betraten die Leichenhalle. Sie zeigten mir nacheinander die Gesichter der Toten und fragten, ob ich jemanden erkennen würde. Ich sah sie mir alle an. Einige waren jung, einige waren Kinder. Die meisten waren Männer, und es gab auch einige Frauen, und die letzte warst du. Und ich konnte unsere Tochter nicht aus meinem Kopf bekommen und betete … Aber ich habe versprochen, dir in diesem letzten Brief die Wahrheit zu schreiben. Am Tag, als du starbst, Berçem, starb auch Peri. Davon habe ich dir nie erzählt.

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