18. Mai 2022 Mans Cali und Katharina Morello
Menschen, die bis in die Schweiz geflüchtet sind, haben unterwegs meist unglaubliche und traumatische Erfahrungen gemacht. Was sie erlebt haben, erzählt hier jedoch kaum jemand.
Bei schönem Wetter sitzen die Männer aus Somalia jeden Tag in der Parkanlage. Es wird viel Bier getrunken auf diesen grünen Bänken an der erst schwach wärmenden Frühjahrssonne. Derweil vergeht die Zeit.
Diese Männer – nennen wir sie «F-linge», in ihren Ausweisen steht ein F – und die Polizisten auf Kontrolle, die mit ihrem Einsatzwagen an den grünen Bänken vorbeifahren, nicken sich zu. Man kennt sich. Bleibt ruhig. F-linge sind legal. Legal, aber ewig nur vorläufig aufgenommen. Der eine auf der vordersten Bank sitzt seit sechsundzwanzig Jahren hier, er ist inzwischen über siebzig.
Kommt ein Neuer in Zürich an, sozusagen frisch vom Boot, und erkundigt sich beim Hauptbahnhof nach Landsleuten in der Stadt, so wird er in diesen Park geschickt. Nach «Somalistan», wie gesagt wird. Hier hört er nur: Es ist ein Scheiss-Staat. Es ist hoffnungslos. Was habe ich erreicht in der ganzen Zeit? F und nichts.
Wie sie hergekommen sind? Es wird nicht gern über die Reise geredet. Die schlimmen Erfahrungen von unterwegs möchte man bloss vergessen. Psychologische Beratung? Was denken die denn? Bin ich verrückt, oder was? – Solche Hilfe wird abgelehnt. Ein wenig seelische Unterstützung und Stabilität findet man unter sich. Oder seitens der Familie, die im Handy wohnt. Viele verzweifeln. Sitzen Tag für Tag im Park. Trinken Feldschlösschen. Oder Quöllfrisch.
Die folgende Geschichte stammt aus zweiter Hand. Direkt will sie der, dem sie widerfahren ist, nicht erzählen. Es ist seine Wegbeschreibung nach Europa.
Der Mann, der hier Hanad genannt werden soll, reiste 2014 von Somalia mit Schmugglern durch den Sudan nach Libyen an die Küste. Für die Überfahrt nach Italien bezahlte er 2500 USD. Doch das Boot kam nicht weit. Kaum vom Ufer weg wurde es von der libyschen Küstenwache gestoppt. Die Art, wie sich Schlepper und Küstenwächter begrüssten – es war offensichtlich ein abgemachtes Spiel. Die EU bezahlt dafür. Und die Gangs, die den Menschen einen Platz in einem Boot verkaufen, arbeiten mit diesen Wächtern zusammen. Sie liefern die Flüchtlinge aus und lassen sich für jeden weiteren Versuch noch einmal bezahlen.
Hanad kam in ein Lager in Libyen. Diese Lager sind die Hölle auf Erden. Sie werden von Schlepper-Gangs dominiert. Es gibt viele Gangs und alle wollen Geld verdienen. Manche Geflüchtete wurden gefoltert. Die Schlepper zwangen sie, ihre Eltern anzurufen und quälten danach den Sohn hörbar am Telefon, um von den Verwandten Geld zu erpressen. Hanad hatte Glück, dass er Arabisch konnte. Wer Arabisch sprach, wurde nicht ganz so schlecht behandelt. Doch sein Handy, mit dem er seine Reise organisierte, wurde ihm abgenommen. Ihm blieb nur etwas Geld, eingenäht in seinen Hosenbund. Ein, zwei Mal gelang es ihm, nach Tripolis zu fahren und sich in die endlose Warteschlange vor dem UN-Gebäude zu reihen, wo Geflüchtete für ein Visum nach Europa anstehen. Ohne Erfolg. Schliesslich kaufte sich Hanad aus dem Lager frei und fuhr zurück durch den Sudan nach Somalia.
Seine Heimkehr war eine riesige Enttäuschung. Er fühlte sich als Versager. Seine Familie hatte so viel in seine Reise investiert, hatte viele Tiere verkauft, und er kam einfach zurück. Also versuchte er es noch einmal. Mit etwas Überzeugungsarbeit konnte er ein Visum für die Türkei ergattern, und so machte er sich erneut auf den Weg. Diesmal flüchtete Hanad auch vor seinem Gesichtsverlust in der Heimat und seiner Scham.
An der türkischen Ägäisküste sicherte er sich schliesslich eine Fahrt in einem Schlauchboot hinüber nach Griechenland, was 800 USD kostete. Kurz vor Lesbos wurde das Boot von einem grossen Schiff mit griechischer Besatzung angehalten. Man nahm die zwanzig Flüchtlinge samt ihrem Gummiboot an Bord. Nun bist du gerettet, dachte Hanad. Doch das Schiff fuhr nicht nach Griechenland, sondern zurück in türkische Gewässer. Dort wurden die Geflüchteten gezwungen, wieder ins Schlauchboot umzusteigen, Männer, Frauen, zwei Kinder waren auch dabei. Sie schafften es eben noch zum Ausgangspunkt zurück.
Hanad versuchte es dann noch einmal. Bezahlte weitere 800 USD. Und diesmal erreichte er Moria, kam nach einer Zeit im Lager aufs griechische Festland und wanderte schliesslich über die Balkanroute in die Schweiz. Seine Reise dauerte zweieinhalb Jahre. Jetzt ist er ein F-ling. Einer mit etwas mehr Glück als andere. Er arbeitet heute nämlich als «garçon de cuisine» in einem vornehmen Restaurant in der Romandie.
Die Geschichte zeigt zum einen, wie schwierig es ist, überhaupt nach Europa zu gelangen. Aber auch, wie unermüdlich und beharrlich Menschen wie Hanad daran arbeiten und allen Widrigkeiten zum Trotz einen Weg finden. Schade nur, dass diese Leistung hier kaum Anerkennung findet. Sie endet viel zu oft in Resignation und Perspektivlosigkeit. In «Somalistan» auf den grünen Bänken, wo die Sehnsucht nach Zuhause gepflegt wird, nach der längsten und schönsten Küste Afrikas.
Übrigens, der Name Somalia kommt von «soo» und «maal», was so viel bedeute wie «go and milk» oder auf Schwiizerdüütsch «gang go mälche». Dies sei es, was Somalier einander sagen, wenn ein Fremder, ein Besucher ankommt. Denn die Kamelmilch muss bereitstehen für den durstigen Gast. Die somalischen Menschen lieben Besuch. Und sind in der Regel schockiert über die hiesige Gastunfreundlichkeit …