26. Juni 2022 Katharina Morello

Der Wissensdieb

Cover Wolf werden

Ein Auszug aus "Wolf werden - eine afghanische Lebensgeschichte". Das Buch entstand aus einer Begegnung an der ASZ und mit der Papierlosen Zeitung.

Nun arbeitete ich also tagsüber als Blumenpflanzer und -verkäufer und ging abends zur Schule und lernte, wenn ich nicht zu müde war. Mit der Zeit wurde mir allerdings klar, dass die Sache mit den Blumen nicht besonders einträglich war. Ich verbrachte viele Stunden am Tag in den Gewächshäusern und auf der Strasse. Dennoch reichte das verdiente Geld immer nur knapp für das Nötigste.

Ich begann deshalb, wenn ich mit meinen Blumen durch die Stadt zog, nach einer neuen Arbeit Ausschau zu halten. Wiederum musste ich lange suchen und weit herumfragen, doch endlich fand ich eine Stelle in der Küche eines Restaurants und gab das Züchten und Verkaufen der Blumen auf.

In dieser Küche musste ich Berge von Kartoffeln und Karotten waschen und schälen. Und Berge von Geschirr spülen. Dafür bekam ich einen wirklich guten Lohn, und was das Beste war: Jeden Abend konnte ich übriggebliebenes Essen mit nach Hause nehmen!

Nachdem ich in dieser Küche zu arbeiten angefangen hatte, gab es zum ersten Mal, seit ich denken konnte, richtig gutes und gesundes Essen bei uns – und vor allem genug für alle, auch für mich. Davor hatte ich ja eigentlich von Brot und Wasser gelebt. Leider starb zu dieser Zeit der gute, alte Lehrer, der für mein Schulgeld aufgekommen war, und so konnte ich nicht mehr in seine Schule gehen.

Weiterlernen wollte ich trotzdem, und ich grübelte darüber nach, wie ich das anstellen könnte. In diesem Nachbarland war es in den Restaurantküchen üblich, am Morgen viel Essen zu kochen. Dabei musste ich helfen. Nach Mittag hingegen, wenn die Leute gegessen hatten, bekam ich frei bis etwa um vier oder halb fünf Uhr, wenn das Abendessen gekocht werden musste. Ich hatte also am Nachmittag einige Stunden frei.

Direkt neben dem Restaurant, wo ich arbeitete, befand sich eine Schule. Ich entdeckte bald, dass es ganz leicht war, auf das Dach der Küche zu klettern und von da über die Mauer auf den Schulhof hinabzuspringen. Natürlich wäre es nicht möglich gewesen, mich in schmutzigen Strassenkleidern unter die Schulkinder zu mischen. Doch seit ich meine neue Arbeit hatte, konnten wir Geld zur Seite legen, und da kauften wir uns alle einmal neue Kleider. Endlich besass ich eine gute Hose, ein ordentliches Hemd mit schönen Knöpfen und sogar eine Jacke.

Zum ersten Mal in meinem Leben kaufte ich mir zudem richtige Schuhe. Meine Mutter wollte, dass ich sie passend für meine Füsse kaufe, doch ich protestierte: «Nein, ich kaufe sie drei Nummern zu gross, damit ich nicht so schnell wieder neue brauche.» Ich hatte nämlich bei meinen Flip-Flops beobachtet, wie sie immer kleiner geworden waren.

«Meine Schuhe können nicht mit meinen Füssen wachsen, aber meine Füsse mit den Schuhen!», stellte ich fest.

In meinen freien Mittagsstunden sass ich also auf dem Dach der Restaurantküche, sah hinüber in den Hof dieser Schule und überlegte, ob es möglich wäre, mich in eine Klasse zu schmuggeln. Ich wollte die freie Zeit unbedingt zum Lernen nutzen, ja, ich kann sagen, ich war geradezu süchtig danach, mir Wissen anzueignen!

Ich beobachtete, dass zu den Schülern auch viele Kinder afghanischer Herkunft gehörten. Am Morgen kamen die Mädchen, denen ich manchmal heimlich bei ihren Spielen zusah. Ihr Unterricht dauerte bis zum Mittag. Wenn sie nach Hause gegangen waren, begann die Schule für die Knaben. In diesem Nachbarland gab es zu wenig Schulhäuser und Lehrer und die Klassen waren gross, vielleicht dreissig oder vierzig Schülerinnen oder Schüler sassen in einem Raum. Einer mehr oder weniger würde nicht auffallen!

«Okay», sagte ich zu mir, «warum fängst du mit deinem freien Nachmittag nicht etwas Besseres an, als auf dem Küchendach zu schlafen?»

Gesagt, getan. Ich sprang vom Dach in den Schulhof und reihte mich unter die anderen Kinder. Gemeinsam gingen wir ins Klassenzimmer in einen Kurs, der am Nachmittag stattfand. Unauffällig setzte ich mich in die hinterste Bank. Die Klasse war ohnehin geteilt. Auch hier sassen vorne die einheimischen Kinder, hinten die aus Afghanistan. Niemand beachtete mich.


Gesagt, getan. Ich sprang vom Dach in den Schulhof und reihte mich unter die anderen Kinder.


Zuvor hatte ich mir einen Bleistift und ein Schulheft gekauft. Ehrlich gesagt, das war das erste Mal, dass ich etwas Teures nur für mich anschaffte. Davon, was ich für dieses Heft und den Bleistift ausgab, hätte meine Familie drei bis vier Tage zu Essen gehabt. Doch nun sass ich an meinen freien Nachmittagen glücklich zwischen den anderen afghanischen Kindern ganz hinten im Schulzimmer, und sog alles auf, was der Lehrer vorne erzählte.

Man könnte sagen, dass ich schwarz gelernt habe. Wenn du ohne Billett Zug oder Bus fährst, bist du ein Schwarzfahrer. Ich wurde sozusagen ein Schwarzlerner. Ich genoss es sehr, wieder auf die Schule zu gehen. Einmal fragte mich der Lehrer: «Wer bist du?»

Ich antwortete ruhig: «Ich bin Hazara!» Meine Stimme war völlig kontrolliert, als wäre meine Anwesenheit in der Klasse eine Selbstverständlichkeit. Der Mann akzeptierte mich ohne Weiteres. Er fragte bloss noch: «Wo sind deine Bücher?» Ich antwortete: «Ich habe sie nicht. Noch nicht.»

Darauf gab er mir ein paar Reservebücher aus seinem Schrank. Er glaubte wohl, ich wäre ein «richtiger» Teilnehmer seines Kurses. Ich besuchte die Schule jeden Nachmittag. Ich kam gut voran mit Lernen und hatte dabei anfangs kein schlechtes Gewissen, sondern machte es mit Begeisterung. Aber immer häufiger kam mir in den Sinn, dass ich womöglich etwas Unrechtes tat. Ich stahl ja das Wissen. War ich nun besser als ein Dieb, der ein Huhn oder Geld klaut? Ich merkte, dass ich mir darüber Gedanken machen musste, um damit klarzukommen.

Die Zeit verging. Ich war fast zehn Jahre alt, arbeitete morgens und abends in der Küche und schlich mich dazwischen in die Schule. Dabei verdiente ich gut, konnte meine Familie unterstützen und gleichzeitig lernen. Aber eben – nur schwarz.

Seit ich in diesem Restaurant arbeitete, war meine Familie wieder lebendig geworden, ich selbst war wieder lebendig geworden, dank des guten Essens. Und dank des Geldes, das ich verdiente. Genug für unser Leben. Ausserdem konnte ich lernen.

Nun lief es also eine Weile ziemlich gut für mich und meine Familie. Doch mit der Zeit, ich weiss nicht weshalb, fühlte ich mich schlecht. Mir erschien dieses Schwarzlernen auf einmal als grosses Unrecht. Als die Prüfungen nahten, wurde mir auf einmal klar, dass ich nicht länger mit dieser Lüge zurechtkam. Ich musste die Wahrheit sagen.

Deshalb ging ich zu meinem Lehrer und sagte ihm: «Es tut mir leid, aber ich habe das ganze Jahr schwarz gelernt.» «Was bedeutet das?», wunderte er sich.

«Wissen Sie, als das Schuljahr anfing, bin ich einfach über das Dach geklettert und habe mich hier an diesen Platz gesetzt. Ihr habt alle gedacht, ich sei für diese Klasse angemeldet. Dann bin ich immer wieder gekommen und habe das ganze Jahr hier gratis gelernt.»

Es war am Tag vor den Prüfungen, als ich dies meinem Lehrer gestand. Ich dachte: Wenn du die Prüfungen schreibst, dann hast du nicht nur ein ganzes Schuljahr, sondern auch noch ein Diplom gestohlen. Das ging einfach nicht.

Mein Lehrer war schockiert, als er hörte, was ich ihm zu sagen hatte. Wirklich völlig schockiert. Er sagte, er wisse nicht, was er davon halten solle, weil ich doch ein Jahr lang sein Schüler und er mein Lehrer gewesen sei.

Schliesslich nahm er mich ins Schulbüro. Die Leute im Schulbüro hatten auch gedacht, ich sei angemeldet gewesen, denn sie hatten mich oft gesehen und erkannten mich. Als sie hörten, was ich getan hatte, waren sie ebenfalls sprachlos und holten den Schuldirektor.

Als der Direktor das Zimmer betrat, lachte er über das ganze Gesicht. Er hatte meine Geschichte gehört, und er fand sie offenbar sehr komisch. Auf einmal begannen auch alle anderen im Schulbüro zu lachen. Das war für mich das erste Mal, dass ich Menschen in diesem Nachbarland sah, die alle einfach nur lachten. Sie konnten nicht mehr damit aufhören.

«Weisst du», sagte der Direktor zu mir, «die einheimischen Kinder hier laufen von der Schule davon und du, kleiner Ausländer, lernst hier sogar schwarz! Was ist los mit dir?»


«Und du, kleiner Ausländer, lernst hier sogar schwarz!»


Sie lachten weiter über diese Geschichte und gaben mir Kaffee zu trinken, lobten meinen Fleiss und meine Lernfreude. Eine Lehrerin, die auch dort war, lachte so sehr, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. Wirklich, am Ende weinte sie vor lauter Lachen.

Nachdem die Schulleitung so sehr über mich und meine Geschichte gelacht hatte, konnte sie mir natürlich schlecht böse sein. Der Direktor fragte mich: «Warum hast du alles erzählt?» Ich antwortete: «Wissen Sie, ich fühlte mich so schlecht, weil ich dachte, dass ich ein Dieb und deshalb ‹haram› sei.» Er sagte: «Wie ich von deinem Lehrer höre, hast du viel gelernt. Es wäre schade, wenn du die Prüfung nicht schreiben würdest. Komm morgen und schreib dein Examen!» Also ging ich am nächsten Tag zur Schule und legte diese Prüfung ab. Alles lief gut und endlich bekam ich auch für meine Arbeit alle Punkte, die ich verdiente. Ich war der Beste des ganzen Jahrgangs.

Später gab es eine Feier, bei der die Diplome verteilt wurden, und sie luden nicht nur mich und meine Familie dazu ein, sondern auch meinen Chef von der Arbeit in der Küche. Bei der Versammlung riefen sie mich nach vorn und dann musste ich vor allen Leuten sprechen.

Ich sagte: «Bitte entschuldigen Sie, dass ich schwarz gelernt habe, doch ich liebe es zu lernen. Ich arbeite nebenan im Restaurant und als ich in den Mittagspausen sah, wie hier alle zur Schule gingen, musste ich einfach herüberklettern.»

Dann sprach auch mein Lehrer, bei dem ich unangemeldet in der Klasse war. Er hatte mich wohl gern, denn er sagte, ich sei ein kluger Kopf, weil ich so gut gelernt habe, obwohl ich nur die Hälfte der Stunden besuchen konnte. Hinterher gaben sie mir ein richtiges Diplom und feierten mich als besten Schüler. Dann verkündete der Direktor, dass meine Geschichte in einer grossen Zeitung erscheinen sollte, doch damit war ich nicht einverstanden. Es wurde mir alles etwas zu viel und ich sagte: «Nein, danke!»

Doch dass meine Eltern, meine Geschwister und auch mein Chef gekommen waren, freute mich sehr. Mein Chef war so stolz auf mich und genauso mein Vater – ich glaube, an diesem Tag sah ich zum ersten Mal in meinem Leben sein Lachen. Meine Mutter hingegen hatte sich zuerst geschämt, denn ich hatte ihr gebeichtet: «Mama, ich habe das noch nie zuvor gemacht, aber jetzt habe ich etwas gestohlen!»

«Oh, mein Sohn!», hatte sie entsetzt gerufen. «Was hast du gestohlen?» «Ich ging schwarz in die Schule und habe Wissen geklaut!» Als ich ihr alles erklärt hatte, musste sie doch noch lachen. In unserer Strasse wurde die Geschichte bekannt, und man nannte mich noch eine ganze Weile nur den Jungen, der das Wissen stahl.


AUS: WOLF WERDEN – EINE AFGHANISCHE LEBENSGESCHICHTE. Limmat Verlag 2022.

Hazara, ein afghanischer Junge, musste mit seiner Familie vor den Taliban in ein Nachbarland flüchten und wuchs dort in den Nullerjahren unter schwierigen Bedingungen auf. Geflüchtete waren nicht willkommen, oft lebten sie wie Hazaras Familie ausgegrenzt und in Armut.

Als knapp Zwanzigjähriger nahm Hazara an einem Schiesswettbewerb teil, bei dem es ein Auto zu gewinnen gab. Er gewann, bekam den Preis aber nicht: Das könne nur ein Einheimischer. Stattdessen meldete sich das Militär bei ihm. Hazara stand vor der Wahl: Wollte er bleiben und offizielle Papiere bekommen, musste er in den Krieg. Er entschied sich für die erneute Flucht bis in die Schweiz.

Katharina Morello lässt Hazara erzählen, wie er sich über viele Stationen vom sechsjährigen Blumenverkäufer zum Mechaniker mit eigener Garage und Hausbesitzer hocharbeitete, wie er sich allen Widrigkeiten zum Trotz mit Mut, Wut und Fantasie nicht nur einen Platz in der Gesellschaft, sondern auch die Liebe seines Lebens erkämpfte – um alles wieder zu verlieren.

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