12. Oktober 2020 Badr, Emilio, Martina

Die Angst, in den Bunker zurück zu müssen

Die Notunterkunft in Urdorf wurde zeitweise geräumt, weil zahlreiche Geflüchtete am Coronavirus erkrankt sind. Nun fordern sie die Schliessung des Bunkers und wehren sich dagegen, als "straffällig" dargestellt zu werden.

Zur Zeit ist hier kein Mensch: Die Notunterkunft in Urdorf steht leer, mindestens vorübergehend. Als der Fotograf Emilio Nasser am 3. Oktober zu Dokumentationszwecken die Zivilschutzanlage besuchte, traf er niemanden an. Die unterirdischen Räume waren verlassen, die Stühle leer. „Es war unheimlich.“

Alle 36 Bewohner der unterirdischen Bunkeranlage sind Ende vorletzter Woche nach Zürich gebracht worden, denn 16 von ihnen waren am Corona-Virus erkrankt. Es war geschehen, wovor Geflüchtete und verschiedene Organisationen seit Ausbruch der Pandemie gewarnt hatten: dass sich das Virus in Massenunterkünften wie dieser rasch verbreitet und die Menschen gefährdet, die gezwungen sind, hier zu wohnen.

Zur Zeit befinden sich die Bewohner der Zivilschutzanlage im früheren Pflegezentrum Erlenhof in Zürich in Isolation. Und was passiert, wenn die Quarantäne abgeschlossen ist respektive wenn sich die Erkrankten erholt haben? Die Geflüchteten wollen keinesfalls in die unterirdische Zivilschutzanlage zurückkehren.

„Urdorf ist die schlimmste Unterkunft im ganzen Kanton“, sagt ein Bewohner. Bereits im April forderte eine breite Allianz, den Bunker zu schliessen. Bisher wurden die Betroffenen nicht darüber informiert, ob sie zurückgehen müssen. Aber sie haben Angst davor. „Tele Züri“ berichtet, dass die Behörden den Bunker reinigen liessen, was auf eine Weiterführung des repressiven Unterbringungsregimes hinweist.


„Urdorf ist die schlimmste Unterkunft im ganzen Kanton.“


Am vergangenen Donnerstag haben etwa 100 Personen vor dem Erlenhof in Zürich demonstriert. Sie forderten die Schliessung der Notunterkunft Urdorf mit ihren unmenschlichen Lebensbedingungen. Ausgelöst wurde der Protest durch einen Zwischenfall am Mittwoch: zwei der isolierten Männer sprangen aus dem Fenster und verletzten sich beim Sturz. Die beiden waren negativ auf das Virus getestet worden und wollten ins Freie, um notwendige Dinge zu kaufen und weil sie dachten, dass die Ansteckungsgefahr draussen kleiner ist as drinnen. In der Folge bezeichnete sie die Zürcher Sicherheitsdirektion als "kriminell".

Die grossen Medien übernahmen diese Bezeichnung, „20Minuten“ etwa schrieb pauschalisierend: „Laut einer Mitteilung der Zürcher Sicherheitsdirektion vom Mittwoch handelt es sich bei den Bewohnern um abgewiesene, straffällige Asylbewerber.“ Unklar bleibt bei dieser Formulierung, ob die zwei aus dem Fenster gesprungenen oder alle Bewohner der Notunterkunft Urdorf gemeint sind. Das Vorurteil, dass Asylsuchende automatisch „straffällig“ seien, ist damit aber in die Welt gesetzt und wird medial weiter verbreitet. Solche Pauschalisierungen sind rassistisch.

Ein Bewohner der Notunkerkunft sagt: „Es stimmt nicht, was 20 Minuten geschrieben hat. Es gibt in Urdorf viele Leute, die nie kriminell waren. Sie haben nichts verbrochen, sie sind nette Personen.“ Warum sie nach Urdorf gebracht werden, liegt bei vielen einzig daran, dass ihr Asylgesuch abgewiesen wurde. Ihr Aufenthaltsstatus in der Schweiz ist also „illegal“ – das reicht, um in die Maschinerie der Repression zu geraten.


„Es stimmt nicht, was '20 Minuten' geschrieben hat. Es gibt in Urdorf viele Leute, die nie kriminell waren. Sie haben nichts verbrochen, sie sind nette Personen.“


Ob man in Urdorf oder in einer anderen Unterkunft lande, sei Zufall, sagt der Mann. Er will auf jeden Fall nicht in die Notunterkunft ohne Fenster zurückkehren. Es ist kein menschenunwürdiger Ort zum Leben. „Dieser Ort macht dich krank und verrückt“, erzählte ein anderer Bewohner der „Papierlosen Zeitung“ zu einem früheren Zeitpunkt. „Die Schweiz: ein Land der Menschenrechte? Wer Urdorf kennt, weiss, dass das nicht stimmt.»

Die Notunkerkunft Urdorf ist eines der Zentren, in dem Dutzende Geflüchtete darauf warten, ausgeschafft zu werden, oder dazu gebracht werden sollen, das Land von selbst zu verlassen. Das letzte Jahr war für viele Geflüchtete, von denen viele seit über 10 Jahren in der Schweiz leben, besonders katastrophal.

Das Bundesamt für Migration SEM und der Kanton wenden verschiedene Strategien an, um die abgewiesenen Asylsuchenden aus dem Land zu werfen, aber keine dieser Unterdrückungsstrategien war bisher erfolgreich: Im Sieben-Tage-Rhythmus die Notunterkunft wechseln müssen, das System der „Eingrenzung“, das Geflüchtete in den kleinen Umkreis eines Gemeindegebiets verbannt, täglich für die Nothilfe von Fr. 8.50 unterschreiben zu müssen oder die Polizeikontrollen in Urdorf am frühen Morgen. All diese Strategien haben das Ziel, die Geflüchteten unter Druck zu setzen.

Mit der Corona-Pandemie wurde die Situation noch schwieriger. Die Geflüchteten in der Zivilschutzanlage Urdorf versuchten, sich Gehör zu verschaffen und auf das Ansteckungsrisiko hinzuweisen. Viele Geflüchtete haben Probleme mit den Atemwegen, weil es im unterirdischen Bunker keine Frischluftzufuhr und kein Tageslicht, keine Sonne gibt. Die Menschen im Untergrund werden in kleinen Räumen zusammengequetscht. Die Chance, dass man sich mit dem Virus ansteckt, bestand jederzeit.


Viele Geflüchtete haben Probleme mit den Atemwegen, weil es im unterirdischen Bunker keine Frischluftzufuhr gibt.


Aber das Migrationsamt des Kantons Zürich, die Sozialen Dienste sowie die mit der Betreuung beauftrage Firma ORS kümmerten sich nicht darum. Das Ergebnis: Über 30 Menschen sind nun in der Quarantäne, mindestens 16 von ihnen erkrankt. Es gibt im Erlenhof aber keine medizinische Kontrolle; kein Gesundheitspersonal, das die Betroffenen untersucht. Die an Corona Erkrankten wurden nur telefonisch gefragt, ob sie einen Arzt brauchen. Auch das Essen ist knapp.

Die solchermassen Isolierten leiden unter ihrer Marginalisierung, der Repression der Behörden und der Ignoranz der ORS-Angestellten – seit Jahren schon. Nun aber bezahlen sie die Verantwortungslosigkeit der Behörden mit ihrer eigenen Gesundheit. „Das Asylsystem macht die Menschen krank“, sagen die Bewohner und Aktivisten. Sie fordern, den Bunker in Urdorf zu schliessen und dass die Geflüchteten nicht dorthin zurückkehren zu müssen. Sie wollen künftig in Würde leben.

Update:

Am Tag, nachdem dieser Artikel geschrieben wurde, wurden die Geflüchteten nach Urdorf zurückgebracht. Man habe das Asylzentrum wieder in Betrieb genommen, liess die Zürcher Sicherheitsdirektion am 12. Oktober verlauten. In den Allgemeinräumen der Zivilschutzanlage herrsche eine Maskenpflicht. Die Befürchtungen der Geflüchteten sind Realität geworden. Indem der Kanton unter Sicherheitsdirektor Mario Fehr trotz aller Argumente an dieser Unterbringung festhält, realisiert er eine rassistische Politik.

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