3. August 2016 Abed Azizi

Die Schweiz braucht eine Revolution der Tradition

Die Kirche neben meiner Wohnung im Universitätsviertel läutet täglich viele Male, auch mitten in der Nacht. Über achtzigmal läutet sie und hört nicht auf. Ich erwache jedes Mal, und mein Leben wird gestört. Was für eine Tradition ist das, die mich nach sechs schwierigen Ta­gen bei der Arbeit und in der Schule am siebten Tag nicht ausruhen lässt? Diese Tradition hat den Stress akzeptiert. Darf ich nicht an meinem einzigen freien Tag der Woche ungestört in meinem Zimmer schlafen? Was ist der Unterschied zwi­schen störenden Minaretten und dem Läuten der Kirchenglocken? Ist die Schweiz wirklich ein Land der Meinungs­freiheit und säkular?

Hier darf von Gesetzes wegen bei Formu­laren zur Wohnungssuche nach unserem Glauben und unserer Religion gefragt werden. Aus welcher rassistischen Tradi­tion heraus haben Verwaltungen und Or­ganisationen so viel Unterstützung, um nach diesen Unterscheidungen zu fragen? So betrachtet, könnte man sagen, dass die Gesellschaft und das System in der Schweiz sehr religiös sind.

Die Tradition besitzt uns

Wir als Menschen besitzen offenbar nicht unsere eigene Tradition, sondern die Tra­dition besitzt uns. Die Leute sagen mir, dass diese Kirchenglocken auch sie stört, aber das sei eben Tradition, da könne man nichts machen.

Hier muss man oft seine Meinung verste­cken, sonst gerät man in eine unsichere Situation. Meine Arbeit war in Gefahr, und zwar nur deshalb, weil ich in der Pause den Chefinnen gegenüber meine persönliche Meinung über die Flüchtlinge geäussert habe. Die meisten Schwei­zer*innen sind nicht bereit, Kritik zu hören, sie haben keine Geduld für Verän­derungen und keine Kraft, andere Mei­nungen aufzunehmen. Wir werden diskri­miniert, aber sollen trotzdem der schönen Schweiz dankbar sein und eine Kultur der Dankbarkeit entwickeln. Was wir heute brauchen, ist eine neue, gemeinsame Tra­dition.

Die Schweizer*innen fliehen meistens vor tödlichen und schrecklichen Realitäten, die es in unserer Gesellschaft gibt, und sie möchten gerne nur von Blumen, Hyazin­then und Nachtigallen hören. Die Gesell­schaft, die sie selber aufgebaut haben, macht sie leider kraftlos, schwach und müde. Sie hat den Mut von ihnen wegge­nommen. Energie und neue Ideen werden heftig vermisst. Das bekannteste Wort: Stress. Alle sprechen überall darüber. Psychologisch und soziologisch ist die Schweiz eine müde und alte Gesellschaft, denn eine kleine Gruppe lebt immer noch mit den modrigen Gedanken aus der Zeit des Feudalismus und entscheidet für die Mehrheit der kraftlosen Menschen. Leider wird das von den meisten schon von Kindheit, von der Schulzeit an als Tradi­tion akzeptiert.

Dieses System ist sehr speziell: Eine seltsame Partei entscheidet schon lange für alle. In vielen demokrati­schen Ländern sind solche Leute in klei­neren, begrenzten Gruppen aktiv, aber hier sind sie bei den Wahlen die stärkste Partei und machen die Gesetze. Dies ist ein Zeichen dafür, dass die meisten in der Bevölkerung die gleiche Meinung wie diese Partei haben und damit glücklich sind. Sie verstecken sich hinter dem Vor­wand, dass sie kein Interesse an Politik hätten. Ist das Demokratie oder Apart­heid und Diktatur einer kleinen «Mehr­heit»? Eine echte Demokratie müsste solche hemmungslosen Parteien stoppen.

Höflich, aber nicht herzlich

Die Tradition flieht davor, uns kennenzu­lernen, und schaut uns an wie eine Spinne, vor der sie sich fürchtet, und nicht wie Menschen. Sie erlaubt uns nicht, uns zu integrieren. Auf die Anfrage der Solothur­ner Kirchen, ob sie irgendetwas zur Un­terstützung der Flüchtlinge tun könne, antwortete die Stadt Solothurn, dass man lieber nicht zu viel machen solle, da sich die Leute sonst integrieren würden, und das sei nicht ihr Ziel.

Die Menschen hier sind höflich, aber nicht herzlich. Die Gesellschaft, die mir als ihre höchste Lehre den Rassismus ge­geben hat, bemüht sich, dass ich hier im­mer als Fremdkörper in meinem fremden Kleid verbleibe und mich nicht integriere. Die wichtigste Frage ist: Woher kommst du? Und nicht etwa: Wer bist du? Oder: Welche Ideen hast du?

Die meisten Menschen hier haben Geld, Essen, einen Platz zum Schlafen und Kleider. Aber sie sind nicht froh, sondern traurig. Sie brauchen täglich trügerische Fröhlichkeit wie eine Sucht. Sitzt man im Tram oder Zug und schaut sich um, be­merkt man in vielen Augen sofort grosse Traurigkeit und Depression. Die meisten möchten Ausländer*innen nur ungern glücklicher und erfolgreicher sehen als sich selbst. Deshalb ist die Bevölkerung sehr konservativ und verdächtigt Aus­länder*innen andauernd, irgendetwas Schlechtes gemacht zu haben. Sie blo­ckiert durch Gesetze systematisch die Entwicklung der Ausländer*innen: wirt­schaftlich, in der Bildung und beim Bürgerrecht. Das nimmt uns das Selbst­bewusstsein und macht, dass wir uns immer fremd, als Bürger*innen zweiter und dritter Klasse fühlen.

Schwach ist, wer nicht diskutieren will

Die Demokratie in der Schweiz ist wie ein Messer und ein Apfel in den Händen eines achtmonatigen Kindes: Das Kind zerschneidet sicher seine Hände anstatt den Apfel. Eine Demokratie, die nicht auf internationalen Kriterien und Menschen­rechtsnormen beruht und den Namen «Demokratie» schlecht benutzt, ist nicht zur Demokratie fähig.

Ich habe viel Respekt für meine Hunder­ten von Bekannten, die mir vertraut sind und die nicht zu diesem Teil der Bevölke­rung gehören. Meine Rede geht nicht an sie und auch nicht an die vielen engagier­ten Menschen, die ich nicht kenne. Aber hier leben nicht Hunderte von Menschen, sondern acht Millionen.

Wahrscheinlich denken die Leser*innen dieses Herzblut-Textes, dass er pessimis­tisch sei. Aber ich verspreche ihnen: Diese Kritik kommt nicht aus einer Schwäche heraus, sondern entstammt meiner vollen Kraft, der Konfrontation mit den Proble­men in der Gesellschaft und der Bereit­schaft, dagegen zu kämpfen. Schwach sind die, welche vor der schwierigen Rea­lität in unserer Gesellschaft fliehen und keine Kraft haben, darüber zu diskutieren und Lösungen zu finden, und welche nir­gends Veränderungen akzeptieren wollen.

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