24. August 2021 Claudia Schlegel / Michael Schmitz

Duldung statt Mobbing

Foto: Emilio Nasser (Phantom Ship)

In Deutschland dürfen abgewiesene Asylsuchende in einer eigenen Wohnung leben, arbeiten und eine Ausbildung machen. Höchste Zeit für die Schweiz nachzuziehen.

Junge Menschen, die von einem Tag auf den anderen aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen werden, verzweifelte Mitschüler* innen, die mit Sitzblockaden vergeblich verhindern wollen, dass die harte Hand des Staates ihre*n Freund*in aus dem sicheren Deutschland in den Krieg und den Terror von Afghanistan abschiebt: Das Bild von Deutschlands Umgang mit abgewiesenen Asylsuchenden ist geprägt von solchen dramatischen Szenen. Tatsächlich ist die deutsche Ausschaffungspraxis mindestens so gnadenlos wie die der Schweiz. Alles in allem haben abgewiesenen Asylsuchende in Deutschland aber in fast allen Bereichen des Lebens deutlich mehr Möglichkeiten und auch eine bessere Bleibeperspektive.


Das Schweizer Mobbing-Prinzip


Nennen wir ihn Luca. Luca ist 23 Jahre alt und kommt aus Afghanistan. Seit drei Jahren lebt er in der Schweiz. In dieser Zeit hat er sehr gut Deutsch gelernt und auch einen Kreis von Schweizer Freund*innen gefunden. Seit einem Jahr jedoch lebt Luca in den schäbigen Nothilfe- Baracken von Rohr, vom Kanton Zürich euphemistisch «Rückkehrzentrum» genannt. Trotz des Bürgerkriegs in Afghanistan und regelmässiger Terroranschläge in der Stadt Herat schätzt das Staatssekretariat für Migration (SEM) Lucas’ Heimat als «sicher» ein und verweigert ihm eine Aufenthaltsbewilligung.

Die Schweiz will Luca loswerden und gibt sich dabei einige Mühe. Luca darf nicht arbeiten und muss, gemäss den Regeln des Kantons Zürich, zweimal täglich im Nothilfelager seine Präsenz bezeugen. Sonst bekommt er die mickrige Nothilfe von 8.50 Fr. nicht. Er könnte zwar in einer WG von Schweizer Freund*innen unterkommen, doch dann bekäme er ausser der Krankenkasse keinerlei staatliche Unterstützung mehr. Schon mit seinem Engagement im Café der Autonomen Schule Zürich bewegt er sich rechtlich in einer Grauzone. Denn eigentlich ist neben der Lohnarbeit auch gemeinnützige Arbeit verboten. Bei privater Unterbringung dürfen gemäss der Kirchlichen Kontaktstelle für Flüchtlingsfragen (Bern) nur «Haushaltsarbeiten im üblichen Umfang» durchgeführt werden. Bereits die Mithilfe bei der Gartenumgestaltung wäre illegal.

Als abgewiesener Asylsuchender über 18 Jahren ist Luca zudem von allen Integrationsleistungen wie Deutschkursen und anderen Ausbildungsangeboten ausgeschlossen. Die begonnene Lehre als Pflegefachmann musste er nach dem negativen Asylentscheid abbrechen. Eben hat der Ständerat beschlossen, dass diese Regelung auch in Zukunft Bestand hat. Übliche Prinzipien der Verhältnismässigkeit und der rationalen Kosten-Nutzen-Abwägung scheinen im Umgang mit abgewiesenen Asylsuchenden in der Schweiz nicht zu gelten. Es gilt das Mobbing-Prinzip: Das Leben in der Schweiz soll für die Betroffenen unaushaltbar werden, damit sie dann «freiwillig» zurückkehren. Das zeigt sich auch bei den regelmässigen Verhaftungen wegen illegalen Aufenthalts, die Luca zu erleiden hat. Einmal musste er deswegen sogar ein paar Monate ins Gefängnis.


Nicht legal, aber «geduldet»


Lucas ursprünglicher Plan war eigentlich, in Deutschland Asyl zu suchen. Hätte er dies geschafft, müsste er jetzt wohl ebenfalls ohne Aufenthaltsbewilligung leben, und die Gefahr einer traumatischen Ausschaffung wäre real. Aber bis zu deren Vollzug wäre er wie alle anderen in einem regulären Verfahren abgewiesenen Asylsuchenden «geduldet» und hätte ein Ausweispapier. Dieses steht zwar nicht für ein Aufenthaltsrecht. Der Aufenthalt der «Geduldeten» in Deutschland ist rechtlich weiterhin illegal. Deshalb sind auch Ausschaffungen immer möglich. Aber anders als in der Schweiz ist dieser illegale Aufenthalt nicht strafbar. Luca müsste also deswegen nicht immer wieder mal drei Tage oder sogar einige Monate im Gefängnis verbringen.

Dennoch will auch der deutsche Staat grundsätzlich nicht, dass Geduldete im Land bleiben. «Kein Aufenthaltstitel! Der Inhaber ist ausreisepflichtig!», steht demonstrativ auf dem Duldungsausweis. Wenn die Betroffenen jedoch ihre Mitwirkungspflicht bei der Papierbeschaffung erfüllen und nicht aus einem im Asylgesetz definierten sogenannt «sicheren Herkunftsland » wie Kosovo oder Senegal stammen, haben sie zusätzlich zum Ausweispapier auch in den Bereichen Wohnen, Arbeit und Bildung ganz andere Möglichkeiten als abgewiesene Asylsuchende in der Schweiz. Sie können – allerdings abhängig vom Bundesland und den Kommunen – die Art der Unterbringung frei wählen: Wohnung, WG-Zimmer … Bis zu einem gewissen Betrag wird die Miete vom Sozialamt übernommen. Weil Luca anders als in der Schweiz vertragsfähig wäre, könnte er auch einen Mietvertrag für eine eigene Wohnung oder ein Zimmer bei einer Freundin oder einem Freund auf seinen Namen abschliessen. Ausserdem bekäme er nicht nur Nothilfe, sondern staatliche Unterstützungsgelder, die fast so hoch sein können wie die reguläre Sozialhilfe.


Arbeit und Bildung sind möglich


Grundsätzlich dürfte Luca als Geduldeter auch arbeiten, Praktika, eine Ausbildung oder ein Freiwilliges Soziales Jahr machen, sofern er nicht einem Beschäftigungsverbot unterliegt. Bei der Lohnarbeit macht Deutschland einen Unterschied zwischen Geflüchteten mit Hochschulabschluss und anderen. Erstere können ohne Einschränkungen in ihrem Berufsfeld oder in anderen gut entlohnten, hochqualifizierten Jobs arbeiten. Der Hintergrund ist klar: Deutschland benötigt Fachkräfte und will sich so dieses Potenzial erschliessen. Wer keinen Hochschulabschluss hat, braucht für die Arbeit eine Genehmigung. «Geduldete finden zum Beispiel einen sogenannten Mini-Job bei McDonalds. Die Ausländerbehörde und die Agentur für Arbeit prüfen dann, ob Gründe für ein Beschäftigungsverbot vorliegen und ansonsten alle Bestimmungen wie etwa der Mindestlohn eingehalten sind. Dann kann eine Beschäftigungserlaubnis erteilt werden. Ob dies dann auch geschieht, liegt jedoch immer auch im Ermessen der zuständigen Ausländerbehörde», erklärt Claus-Ulrich Prölss vom Kölner Flüchtlingsrat. Ab dem 49. Monat ist jede Arbeit ohne besondere Bewilligung möglich. Auch ein Studium oder eine Ausbildung sind mit einer Duldung möglich.

Luca hätte seine Lehre zum Pflegefachmann also nicht abbrechen müssen. Er hätte sogar für die Dauer der Lehre eine Ausbildungsduldung erhalten können, die vor einer Ausschaffung schützt. Auch der Weg zu einer Aufenthaltserlaubnis stünde offen. Diese bekommt, wer nach Lehrabschluss in seinem Beruf Arbeit findet. Integrationsprogramme wie Deutschkurse können ebenfalls besucht werden.


Klarere Bleibeperspektiven


«Der Gesetzgeber sagt: Wir wollen Geduldeten eine Chance geben», meint Claus-Ulrich Prölss. So schafft das deutsche Gesetz auch klarere Bleibeperspektiven als das schweizerische. Neben der Möglichkeit, die Luca nach Abschluss seiner Ausbildung hätte, gibt es mehrere, meist sehr komplexe Regelungen: die «Aufenthaltsgewährung bei gut integrierten Jugendlichen und Heranwachsenden», das Bleiberecht für qualifizierte Geduldete oder, neu und nur temporär, die «Beschäftigungsduldung », die unter bestimmten Bedingungen nach 18 Monaten ununterbrochener Arbeitstätigkeit erteilt werden kann, 30 Monate gültig ist und zu einer Aufenthaltserlaubnis führt. Falls Luca für keine der genannten Regelungen in Frage käme, könnte er immer noch nach 8 Jahren einen Antrag auf Bleiberecht stellen. Gemäss Gesetz «soll» dieses nach dieser Frist bei guter Integration gewährt werden. In der Schweiz könnte er zwar theoretisch schon nach fünf Jahren ein Härtefallgesuch stellen und eine Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen bekommen. In der Praxis des Kantons Zürich wird diese Einzelpersonen aber kaum vor acht Jahren gewährt. Ein solcher Entscheid fusst zwar auf ähnlichen Kriterien wie in Deutschland, ist aber ein reiner Gnadenerlass, der oft willkürlich angewandt wird.


Höchste Zeit für eine andere Politik


Um abgewiesene Geflüchtete loszuwerden, verweigert der Schweizer Staat ihnen praktisch sämtliche Perspektiven. Systematisch werden Menschen psychisch gebrochen. Das haben wir in unserem Alltag in der Asylbewegung immer wieder erlebt, und es ist auch in verschiedenen Studien belegt. Dabei ist die harte Schweizer Politik nicht mal an den eigenen Massstäben gemessen erfolgreich. Trotz der Perspektivenlosigkeit kehren nur wenige Afghan*innen, Algerier*innen oder Eritreer*innen «freiwillig» zurück. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Auch die deutsche Duldungspolitik hebt die ständige Gefahr der Abschiebung nicht auf, auch sie lässt die Geflüchteten in einem prekären Zustand. Sie ist kalt und von ökonomischen Kosten-Nutzen-Abwägungen bestimmt. Aber Fakt ist: Sie bietet deutlich mehr Lebensperspektiven als das schweizerische System. Der Blick nach Deutschland macht bewusst, wie weit die Schweiz ungeachtet der menschlichen Kosten in ihrer Vergraulungspolitik geht. Es ist höchste Zeit, sie zu beenden.


* Gilt nicht bei Nicht-Erfüllung der Mitwirkungspflicht bei der Papierbeschaffung und für Angehörige «sicherer Herkunftsstaaten»


Wichtigste Quellen:
https://www.kkf-oca.ch/wp-content/uploads/FI_Freiwilligenarbeit-von-Gefluechteten.pdf
https://www.asyl.net/themen/aufenthaltsrecht/sonstiger-aufenthalt/duldung/
https://www.anwalt.org/asylrecht-migrationsrecht/duldung/

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