5. Juni 2024
Wer in einem Land lebt, das Sicherheit bietet und Schutz, wo keine Gefahr an Leib und Seele droht, wo die Grundrechte gesichert sind, die Grundbedürfnisse gestillt, der wird niemals sein Land verlassen wollen. Ich zum Beispiel: Ich habe vier Jahre lang studiert, Recht und Politikwissenschaft, einen Bachelor gemacht und danach zwei Jahre als Rechtsberater in Kabul gearbeitet. Mein Traum war, als Rechtsanwalt in Kabul zu arbeiten. Nie habe ich mir vorstellen können, mein Land zu verlassen, um in Europa oder in einem anderen Land zu leben. Doch als die Taliban am 15. August 2021 wieder an die Macht kamen, waren alle Hoffnungen, Träume und mein Lebensplan auf einen Schlag zerstört.
Wir sind nicht schuld an fehlender Bildung.
Die Taliban lehnen Bildung ab. Jeder, der gebildet ist, ist für sie ein Feind. Als ich in die Primarschule ging, beschossen sie öffentliche Schulen in den Nachbardörfern. Diese Schulen wurden dann geschlossen. Nur wenigen dieser Schüler war es möglich, in unsere Schule in der zentralafghanischen Provinz Oruzgan zu kommen.
In unserer Schule gab es keine Stühle, keine Tische. Wir sassen auf dem blanken Boden. Immerhin gab es Wandtafeln. Während wir drinnen lernen sollten, haben wir oft gehört, wie draussen geschossen wurde. Manchmal wurde sogar neben der Schule gekämpft.
Eines Tages sagte unser Lehrer: «Ich habe gute Neuigkeiten für euch. Bald bekommen wir Material wie Bücher und Anatomie- Modelle für den Biologieunterricht.» Der Lastwagen, beladen mit dem Schulmaterial, den Tischen, Büchern und Modellen, benötigt für den Weg von der Provinzhauptstadt bis zu meinem Dorf zwei Tage. Wir freuten uns sehr, nur um wenig später zu erfahren, dass die Taliban den LKW mitsamt dem Material in einem See versenkt hatten.
Die Schule in meinem Dorf war eine Sekundarschule bis zur 9. Klasse. Für das Gymnasium musste man auf eine weiterführende Schule in Kabul gehen, was sich im Dorf nur wenige leisten konnten; von 25 Schüler:innen gingen deshalb nur fünf nach Kabul. Denn dafür musste eine Unterkunft gemietet und der eigene Lebensunterhalt finanziert werden.
Als mein Vater während meiner Sekundarschulzeit von den Taliban getötet wurde, flohen wir nach Kabul.
Die Flüchtenden haben es sich nicht ausgesucht, ungebildet zu sein.
Sogar die Universität in Kabul wurde mehrmals bombardiert, diesmal vom IS. Einmal wurden Student:innen an meiner Fakultät im zweiten Stock angegriffen, als ich mich im Erdgeschoss befand. Die Student: innen, die versuchten zu fliehen, wurden auf der Flucht erschossen.
In den letzten zehn Jahren wurden in Kabul auf viele Schulen Bomben geworfen oder Anschläge von Selbstmordattentätern verübt. Auf diese Weise wurden tausende Student:innen verletzt oder kamen ums Leben. Die meisten Angriffe gab es im Westen Kabuls, wo viele Hazara (ethnische Gruppe in Afghanistan) leben.
Die Flüchtenden sind nicht selber schuld, wenn sie traumatisiert sind.
Wenn Sie am Bahnhof oder im öffentlichen Verkehr Ausländer:innen treffen, die nicht wissen, wie man sich korrekt verhält, die keine Werte oder Moral zu haben scheinen, liegt das vielleicht nicht an der Person, sondern an dem, was sie Schwieriges erlebt hat. Vielleicht ist sie Überlebende eines Angriffs auf ihre Schule oder Opfer von Folter. Und vielleicht hatte der Mensch keine Möglichkeit, lesen und schreiben zu lernen. Er hat sich die psychischen Probleme nicht ausgesucht, sondern sein Land, die Unsicherheit, die Flucht und andere traumatische Erfahrungen haben ihn zu dem gemacht, der er heute ist. Die Gesellschaft hat ihn zu dem werden lassen, den Sie als störend wahrnehmen. Wir sollten ihm die Möglichkeit geben zu lernen, Verantwortung zu übernehmen und sein Verhalten den gesellschaftlichen Regeln entsprechend anzupassen. Der Krieg beeinflusst uns bis in die letzte Faser hinein, er prägt alles: die Psyche, den Körper, die Bildung.
Bitte sehen Sie Flüchtende nicht als Fremde.
Obwohl ich selbst nur selten schlechte Erfahrungen gemacht habe und die meisten Menschen, die hier in der Schweiz leben, hilfsbereit und freundlich sind, gibt es doch einen Unterschied in der Haltung Migrant:innen gegenüber. Doch ich habe es mir nicht aussuchen können, ob ich in Afghanistan geboren werde oder in Europa. Wenn ich im Zug sitze und lächle, fällt mir manchmal auf, dass ich mit Misstrauen beäugt werde. Natürlich sind nicht alle so. Um mich herum habe ich viele gute Menschen. Am Anfang zum Beispiel, als ich nach einer Adresse suchte, traf ich auf Menschen, die mir halfen, auch hier an der ASZ. Was anders ist, kann ich nicht einmal so genau sagen. Vielleicht ist es eher eine Haltung den Migrant:innen gegenüber. Wir werden angesehen, als seien wir nicht normal.
Ein Leben in Frieden, nur das.
Ein Leben, ein Mensch oder eine Gesellschaft kann sich unablässig weiterentwickeln, wenn Frieden herrscht; in technischer, aber auch in sozialer Hinsicht. Die Menschen können eine Moral entwickeln und verstehen, was gut und was böse ist. Nicht so in einer Gesellschaft, die geprägt ist von Krieg. Die jungen Menschen in Afghanistan zum Beispiel wollten keinen Krieg. Sie wollten nur Bildung. In Kabul dachten wir daran, wie wir in unserem Beruf erfolgreich sein könnten. Doch anstatt uns aufs Lernen zu konzentrieren, kreisten unsere Gedanken ständig um die Bombardements, ständig hatten wir Angst, dass die Schule, die Schulbusse angegriffen werden. Wir konnten nicht lernen, weil der Alltag geprägt war von Gewalt. Dabei haben wir auch das Wünschen verlernt – zum Beispiel in Würde zu leben oder zu träumen. Der Krieg beschneidet selbst unsere Träume. Deshalb sind unsere Träume ganz klein. Denn um zu wünschen, brauchen wir die Fähigkeit zu leben, und zwar in Sicherheit und Frieden.
(Gespräch mit einem afghanischen Migranten, aufgezeichnet von Alice Grünfelder)