4. Juni 2025 Kamran Raman Mohammadi

Götter in der Warteschleife

Das alte Boot ächzt, während es mit seinen Insass:innen im unruhigen Wasser treibt. Als sich die Ereignisse überschlagen, versuchen alle auf ihre Weise mit ihrer Angst klarzukommen.

Die Nacht hatte das Boot und seine Passagiere verschluckt, als wäre sie ein gieriger Unhold, der alles aufsaugt, aber nichts hergibt. Die Planken stöhnten unter der Last, als würden sie jeden Schlag der Wellen persönlich nehmen. Das Wasser schlug hart gegen das morsche Holz, als wolle es demonstrieren, wie brüchig jedes Vertrauen war. Das Boot, ein armseliges Wrack, hielt nicht besser stand als das Wort des Schleppers, der eine «einfache Reise» versprochen hatte – ein Versprechen, so löchrig wie die Planken, die jetzt im Takt des Untergangs ächzten. Jeder Atemzug war erfüllt von Salz, Angst und klammer Feuchtigkeit. 

Der Schlepper, ein magerer Mann mit Augen so rot wie Bremslichter, zog nervös an einer selbstgedrehten Zigarette. «Marihuana ist beruhigend», murmelte er mehr zu sich selbst als zu den anderen, bevor er lauter zischte: «Pscht! Seid still, ihr Hurensöhne! Wollt ihr, dass die Küstenwache uns grillt?» Dann, leiser, voller Verachtung: «Ich habe diesem Hurensohn gesagt: keine Kinder!» 

Kamal, ein wettergegerbter Kurde, sass auf einer der wackeligen Planken, so reglos und stur wie ein Denkmal für vergessene Kämpfe. Seine zusammengekniffenen Augen wirkten, als könnten sie den Horizont allein durch Skepsis zerschneiden. «Allah wird dieses Boot nicht retten», murmelte er trocken. 

Yusuf, ein gläubiger Araber, sass daneben und hob seine Hände Richtung Himmel, als wolle er ihm zumindest eine zweite Meinung abringen. «Ya Allah, rette uns!», flüsterte er mit einem Anflug von Geschäftssinn, als wäre sein Gebet eine letzte Verhandlung – man weiss ja nie, vielleicht hat Allah heute einen guten Tag. Er liess die Hände sinken, schielte dann zu Kamal und sagte ruhig: «Vielleicht rettet Er uns nicht. Aber wenigstens gebe ich Ihm die Chance, es zu versuchen. Was gibst du Ihm? Ein Marxismus-Buch?» 

Ein Baby begann zu schreien, und die Mutter hielt es verzweifelt an ihre Brust. «Oh Allah, bitte, hilf uns! Mein Kind, hilf meinem Kind!» Ihre Worte lösten sich in Tränen auf. 

Ein alter Mann murmelte etwas auf Tigrinya, während neben ihm ein junger Mann in gebetsmühlenartiger Monotonie «Om mani padme hum … Om mani padme hum …» wiederholte. Die Gebete wurden lauter, ein chaotischer Chor aus Angst und Hoffnung, der die Geräusche der klatschenden Wellen übertönte. 

Kamal, mit der Resignation eines Mannes, der den Glauben an jede Art von Errettung verloren hatte, starrte Yusuf an und flüsterte: «Glaubst du, die Götter streiten sich gerade darüber, wer zuerst dran ist?» 

Yusuf, der seine Hände längst wieder in eine Gebetshaltung gefaltet hatte, sah auf die dunklen Wellen, als könnte er dort eine Antwort finden. «Oder sie sitzen zusammen und entscheiden, wer die Verantwortung übernimmt.» 

Kamal schnaubte und rollte mit den Augen. «Typisch. Wahrscheinlich hält die Bürokratie die Götter gerade in der Warteschleife gefangen. Vielleicht sollten wir Moses anrufen – der hat das Wasser wenigstens schon mal im Handumdrehen gespalten, ohne auf Formulare zu warten.» 

Yusuf ballte die Fäuste, die Stimme scharf: «Du hast keine Ahnung, Kamal! Allah wird wütend, wenn du so redest! Du willst nicht, dass Er sich von dir abwendet, glaub mir! Was nützt dir das Überleben, wenn du Seinen Zorn auf dich ziehst?» 

Kamal grinste. «Ach ja, die Grosszügigkeit von Allah. Kenne ich – Er zeigt uns seine Liebe, indem Er uns ordentlich in den Hintern tritt. Vielleicht sollte Er an seiner Wut arbeiten, bevor Er uns hier mit seinen Launen bekehrt. Wenn Er sich ein bisschen mehr entspannt, wären wir schon längst im Paradies!» 

Beide schwiegen. 

Nach einer Weile warf Kamal Yusuf einen Blick zu und schüttelte den Kopf. «Glaubst du wirklich, dass diese Gebete etwas bringen, oder machst du das einfach, weil es der richtige Move im Spiel der Religion ist?» 

Yusuf zog eine Augenbraue hoch, ohne den Blick von den Wellen abzuwenden. «Ich glaube an das, was funktioniert. Ob Gebet oder ein guter Deal – du weisst ja, wie es läuft. Du musst dich einfach in die Reihen einfügen, wenn du was erreichen willst.» 

Kamal lachte bitter auf. «Und du glaubst tatsächlich, das bringt dich weiter? Aber hey, wir könnten auch einfach die ganze Zeit beten und hoffen, dass die Wellen uns endlich erleuchten. Oder besser noch, beten wir den Marxismus an – vielleicht spaltet der das Wasser.» 

Während sie sich weiter in ihre Diskussion vertieften, kam der Schlepper von hinten und rief laut: «Hört auf, hier rumzupredigen, ihr Arschgeigen! Ihr seid auf meinem Boot, keine Scheiss-Gespräche über Götter oder Marx!» 

Plötzlich erhellte ein Blitz das Boot. Diesmal kam er nicht vom Himmel, sondern aus einem Handy. Ein junges Paar posierte für ein Selfie, ihre Gesichter eine seltsame Mischung aus Panik und dem verzweifelten Versuch, cool auszusehen. Der Mann hielt sogar zwei Finger zum Victory-Zeichen in die Luft – als würde er gerade das Festival des Lebens rocken. 

Kamal rieb sich die Stirn. «Wir segeln in die Hölle, und die beiden machen Selfies. Wahrscheinlich mit dem Hashtag #SurvivalInstinct. Vielleicht sollte ich ihnen vorschlagen, einen Filter für ‹Ertrinkender-Look› auszuprobieren.» 

Yusuf zog eine Augenbraue hoch. «Naja, wenn wir absaufen, werden sie wenigstens viral gehen. Der nächste Trend: #LastSelfieBeforeTheStorm.» 

Das Chaos brach aus, als eine Welle kaltes Wasser ins Boot schwappte. Ein Mann schrie panisch auf und klammerte sich an die Bordkante, während die Gebete immer lauter wurden: «Ya Allah!» – «Buddha, hilf!» – «Erzengel Michael, rette uns!» 

Kamal verdrehte die Augen. «Wenn die Götter da oben auch nur halb so genervt sind wie ich, dann gehen wir hier alle unter. Wer will schon einen Rettungsruf hören, wenn gleich zehn verschiedene Religionen gleichzeitig um Aufmerksamkeit schreien?» 

Ein fernes Licht zerriss die Dunkelheit. Es war ein Scheinwerfer, der auf sie zusteuerte. Die Menschen erstarrten und der Schlepper zischte: «Haltet die verdammte Klappe!» Seine Stimme war brüchig, voller Panik. 

Kamal beugte sich zu Yusuf und flüsterte: «Denkst du, das ist das Paradies da vorne? Oder nur die nächste Hölle?» Yusuf schwieg. 

Am nächsten Morgen war das Boot vielleicht verschwunden, verschluckt von den Wellen oder der Bürokratie. Oder es war doch ans Ufer gelangt – niemand wusste es. 

Hunderte von Meilen entfernt, auf einem anderen Fluchtweg, stieg Bashar al-Assad in Moskau aus einem beheizten Privatjet. Er strich seinen Anzug glatt, überprüfte seine goldene Uhr und nickte zufrieden. In einer Stunde würde er unter einer warmen Dusche stehen – kein Gott hatte eingegriffen, keiner hatte es auch nur versucht. 

Einen Tag später, in einer Konferenzhalle in Europa, rieben sich Politiker:innen die Hände. Mit einem Lächeln verkündeten sie: «Angesichts des Sturzes des Assad-Regimes legen wir die Bearbeitung von Asylanträgen auf Eis. Das Land gilt als sicher und es gibt keinen Grund mehr für Asyl.» Mit Göttern hatte das alles nichts zu tun, denn die Politiker:innen hatten längst deren Rolle übernommen – als die einzig wahren Mächte, die über Leben und Tod entscheiden.

Artikel mit ähnlichen Themen:
Loading ...