19. Dezember 2020 Larissa Tschudi

Heimat existiert nur in meinem Kopf

Was ist Heimat? Das ist eine grosse Frage. Für migrierte Menschen ist es noch komplizierter, darauf eine Antwort zu finden. Mahdi und Michelle, die nun in der Schweiz leben, erzählen.

Heimat existiert nur in meinem Kopf - Mahdi, 32

Zuhause fühle ich mich in Winterthur. Als ich vor drei Jahren in die WG einzog, in der ich jetzt lebe, dachte ich zuerst, die Nachbarn in unserem Wohnblock mögen keine Ausländer. Dann hat sich aber gezeigt, dass sie freundlich sind. Das Quartier ist sehr durchmischt, ich spüre dort eine positive Energie. Nebenan wohnt die Hauswartin, sie ist schon älter und hat vier Hunde. Sie hat uns schon oft geholfen, etwa die Heizung zu flicken oder die Vorhänge zu montieren.

Heimat ist für mich dort, wo ich lebe und wo ich mich wohl fühle. Wo ich eine Verbindung zu den Menschen um mich herum und zur Natur spüre. Auch die Erinnerung an einen schönen Ort aus der Vergangenheit ist für mich Heimat. In Maschhad, wo ich aufgewachsen bin, gibt es in der Nähe einen Berg. Von dort kann man über die ganze Stadt schauen. Ich erinnere mich daran, dass ich einmal dort war, und einen schönen Sonnenuntergang miterlebte. Das gab mir ein gutes Gefühl. Diese Erinnerung ist Teil von dem, was ich Heimat nenne.


Auch die Erinnerung an einen schönen Ort aus der Vergangenheit ist für mich Heimat.


Die Stadt an sich zähle ich nicht mehr zu meiner Heimat, ich vermisse sie nicht. Auch wenn meine Eltern noch dort leben, im selben Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Der Alltag war gut dort, aber die Polizei und das politische System waren nicht gut. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, den Iran zu verlassen. Ich denke nicht viel über die Vergangenheit nach. Das bringt nichts. Ich bin gesund, und ich habe hier gute Menschen um mich herum. Das ist das einzige, was zählt. Eine alte Frau hat mich kürzlich gefragt, wo meine Heimat sei. Ich habe ihr geantwortet: Meine Heimat ist in meinem Kopf.


Mahdi wurde in Maschhad geboren, einer Drei-Millionen-Stadt im Nordosten Irans, nahe der Grenzen zu Turkmenistan und Afghanistan. Seine Familie gehört der ethnischen Minderheit der Khawari an. Mit 24 Jahren flüchtete er in Richtung Europa. Er blieb zunächst zwei Jahre in der türkischen Stadt Tokat, nicht weit vom Schwarzen Meer. Danach setzte er seine Flucht fort und kam 2016 in die Schweiz.


In Oerlikon fühle ich mich wohl, weil die Menschen zurücklächeln - Michelle, 31

Ich habe zwei Orte, die ich Heimat nenne: Texas, wo ich aufgewachsen bin, und Oerlikon, wo ich jetzt lebe. In Oerlikon fühle ich mich wohl, weil ich dort mich selbst sein kann, und weil die Leute zurücklächeln, wenn ich sie anlächle. Und ich mag den Gemüsemarkt am Samstagmorgen. Ich kam aus freien Stücken nach Zürich, wegen einer Arbeitsstelle, ich wollte Europa entdecken und mich selber besser kennenlernen.

Wenn ich an Texas denke, taucht vor meinem inneren Auge spontan ein riesiges Strassenüberführungsbauwerk auf, an dem sich sechs verschiedene Autobahnen kreuzen. Es ist alles andere als ein schöner Anblick, aber wenn ich mit dem Auto dort vorbeikomme, weiss ich, dass es zu meinem Elternhaus nicht mehr weit ist. Das fühlt sich wie Heimat an. Ich vermisse es manchmal, stundenlang mit dem Auto durch die Stadt zu fahren, wie ich das in Texas hin und wieder gemacht habe.

Mit Texas verbindet mich eine Art Stolz. Wir sind der beste Staat der USA! Ich sage das mit einem Augenzwinkern. Es ist ein schillernder Mix aus vielen verschiedenen Kulturen und Menschen – vom einfachen Wanderarbeiter zur Ölmilliardärin bis zum Cowboy ist alles mit dabei. Diese Diversität ist nicht nur eine Stärke von Texas, sondern der gesamten USA. Doch als Trump an die Macht kam, geriet das ruhige Zusammenleben stark unter Druck. Dies war mit ein Grund, warum ich nach Zürich kam: Ich fühlte mich in den USA nicht mehr wohl. Ich konnte nicht verstehen und nicht ertragen, wie das Land soweit zurückfallen und einen so rassistischen und selbstbezogenen Präsidenten wählen konnten. Ich musste weg.


Heimat entsteht für mich dort, wo ich mich mit den Menschen verbunden fühle.


Ich habe eine sehr ungezwungene und freiheitliche Auffassung des Begriffs Heimat – womit ich nicht den grosskotzigen amerikanischen Freiheitsbegriff meine. Mit freiheitlich („liberated“) meine ich, dass ich dafür offen bin, mehr als einen Ort auf der Welt meine Heimat zu nennen. Das kann ich auch deshalb, weil ich volle Reisefreiheit geniesse. Heimat entsteht für mich dort, wo ich mich mit den Menschen verbunden fühle. Umgekehrt fühle ich mich in Momenten, in denen ich diese Verbindung nicht mehr spüre, alleine und heimatlos. Das kann überall auf der Welt der Fall sein.

Ich bin fest davon überzeugt, dass es reine Willkür ist, wo, wann und wie wir geboren werden. Daraus lässt sich kein falscher Stolz ableiten.


Michelle wuchs in Grand Prairie und Arlington, Texas, auf, im Grossraum Dallas/Fort Worth. Danach zog sie für das Studium nach Atlanta, Georgia. Mit 24 Jahren siedelte sie nach Gainesville in Florida um, wo sie fünf Jahre blieb und ihren PhD machte. Kurz vor ihrem 30. Geburtstag kam sie nach Zürich.


Aufgezeichnet von Larissa Tschudi

Dieser Text erschien erstmals im Magazin «Zwischentext»

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