28. Mai 2022 Interview: Ari Suleiman

Homosexuelle Geflüchtete sind unsichtbar

Homosexualität ist ein Fluchtgrund. Doch es bleibt ein Tabuthema. Um die Sicherheit von LGBTQ-Geflüchteten kümmert sich niemand. Zwei geflüchtete Aktivisten sprechen über ihre Erfahrungen.

Seine Adoptiveltern schnitten ihm im Alter von neun Jahren den Mittelfinger ab, doch das war nicht seine letzte körperliche Verletzung. Ihm wurde zweimal ins Bein geschossen, als er als Aktivist für die LGBTQ-Community eine Rede hielt. Und das alles nur, weil er homosexuell ist. Er hat gekämpft, bis es nicht mehr ging. Viele Jahre nach diesen Ereignissen tauchte sein Name auf Listen von Gesuchten der philippinischen Regierung auf. So begann seine Flucht mit 33 Jahren. Das ist die Geschichte von Reywynx Morgado, kurz Rey.

Jamal aus Marokko will seinen richtigen Namen nicht erwähnen, er bleibt hier anonym. Es ist lebensgefährlich, sich offen als muslimisch und homosexuell zu bezeichnen. Seine Mutter würde sterben, wenn sie das erfahren würde. Er war ein strenger Muslim. Doch seine Gefühle zu Männern konnte er nicht mehr länger verstecken. 2015 flüchtete er in die Schweiz, nachdem er Probleme mit seiner Familie bekommen hatte. In der Schweiz ist er aus dem Islam ausgetreten und hat sich zwei Jahre danach als homosexueller Mensch geoutet.

Wann hast du gemerkt, dass du homosexuell bist?
Rey: Eigentlich sehr früh, mit neun Jahren. Danach haben mir meine Adoptiveltern mit dem Hammer den Mittelfinger abgehackt.
Jamal: Im Alter von 14 hatte ich ein unbeschreibliches Gefühl, das ich auch in meiner Muttersprache nicht erklären konnte. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir los war. Als ich später in Libyen bei einer Erdölfirma arbeitete, fühlte ich mich zum ersten Mal von einem anderen Mann angezogen. Dort habe ich durch ausländische Ingenieure von der LGBTQ-Community erfahren, doch nicht genug, um mich entscheiden zu können. Danach habe ich im Internet recherchiert.

Wie bist du Aktivist geworden?
Rey: Nach meinem Abitur ging ich 2005 an die Uni und studierte Philosophie. Danach habe ich für die Rechte der LGBTQ-Community in den Philippinen gekämpft. Seither bin ich sehr aktiv.
Jamal: Erst nach meiner Flucht und nach meinem Austritt aus dem Islam. Ich sah und erlebte die Ungerechtigkeit und entschloss mich, mich für die Menschenrechte und LGBTQ-Personen einzusetzen, die in gefährlichen Umgebungen leben.

Wie erlebst du dein jetziges Umfeld?
Rey: Ich bin seit acht Monaten in der Schweiz und bin noch nicht wirklich vielen Menschen begegnet, wegen der Corona-Pandemie. Im Asylzentrum lebe ich mit fünf anderen Cis-Männern in einem Zimmer. Die Mitbewohner sind nicht offen. Ich fühle mich dort ausgestellt. Aber auch sie fühlen sich nicht wohl mit mir. Sie reden über mich und wollen, dass ich das Zimmer verlasse, weil ich schwul bin, auch aus religiösen Gründen. Die Leitung unternahm nichts, als ich mich beschwerte und nach einer Lösung fragte. Das Rote Kreuz versuchte mir zu helfen, sie haben mir versichert, dass sie für meine Sicherheit sorgen wollen. Aber noch lebe ich im gleichen Zimmer. Dabei dachte ich immer, dass ich mich in der Schweiz entfalten und frei sein kann.
Jamal: Ich habe zwei Leben. In linken Kreisen kann ich mein wahres Ich zeigen und mich frei bewegen. Mit Landsleuten bin ich vorsichtig und vermeide unnötige Gespräche. Ein anderer Grund für meine Zurückhaltung ist, dass ich andere LGBTQ-Menschen unterstütze. Ich möchte sie und mich nicht unnötig in Gefahr bringen.

Gibt es Orte, an denen du dich sicher und wohl fühlst?
Rey: Ich fühle mich wohl, wenn ich in den Safe Spaces von Queer Amnesty bin. Oder wenn ich mit kurdischen Freunden zusammen bin, die einzigen, die mich im Asylzentrum wahrgenommen haben. Wir haben ähnliche Erfahrungen gemacht: Verfolgung in unseren Herkunftsländern. Es gibt auch eine Gruppe philippinischer Geflüchteter, in der ich mich wohl fühle.
Jamal: Ich bewege mich in linken Kreisen, da fühle ich mich sicher. Ausserdem lebe ich mit meiner Freundin zusammen, die auch homosexuell ist, so habe ich ein wunderschönes Zuhause.

Bist du zurzeit Aktivist?
Rey: Jein. Ich bin in den Sozialen Medien aktiv und schreibe viel. In der Schweiz bin ich nicht Mitglied einer Organisation, aber ich habe Interviews gegeben und an Veranstaltungen mit Amnesty International teilgenommen. Ich schreibe an einem Buch mit dem Titel «Freiheit». Es soll in drei Sprachen erscheinen und auch meine Erfahrungen in der Schweiz beinhalten. Ich will darin meine Geschichte erzählen, zum Beispiel, wie ich mit der Polizeigewalt oder Mobbing umgehe.
Jamal: Ich habe einen Account auf Facebook und helfe LGBTQ-Personen aus meinem Land, in Sicherheit zu kommen. Ich arbeite aber anonym. Ausserdem war ich an der ASZ und andern Orten aktiv. Momentan arbeite ich 100 Prozent, da ist es schwierig, dazu noch Aktivist zu sein.

Sind die Menschen dir gegenüber offen, wenn sie erfahren, dass du homosexuell bist? Rey: Nicht alle, ich wurde schon mehrmals beschimpft (f*ck you) oder komisch angeguckt. Viele Leute sind sehr verurteilend. Zum Glück habe ich bis jetzt keine physischen Angriffe erfahren. Ich bin froh, dass ich hier schwule Männer auf der Strasse sehe, die sich an den Händen halten.
Jamal: Von meinem Aussehen her werde ich nicht als homosexuell eingeschätzt. Somit habe ich keine direkte Erfahrung mit Homophobie. Ich war aber Zeuge homophober Vorfälle gegen andere Menschen. Es war eine beschissene Situation, in der zwei Männern einen schwulen Mann beleidigt haben, und er floh. Ich versuchte mit den beiden zu sprechen, und sie meinten, die Homosexuellen sollten getötet werden, denn das sei eine Krankheit. Ich war schockiert und konnte nicht weiter reagieren. Ich ging weg.

Wie reagierest du auf negative Sprüche und Kommentare über deine Person?
Rey: Mittlerweile nehme ich negative Kommentare lockerer auf. Ich bin ein friedlicher Mensch und versuche, mit den Personen ins Gespräch zu kommen und mich zu verteidigen.


Homosexualität ist keine Krankheit, sondern eine von vielen Identitäten. Unser Kampf geht weiter.


Jamal: Es ist sehr unterschiedlich. Mit Leuten, von denen ich weiss, dass sie aufnahmefähig sind, versuche ich ins Gespräch zu kommen, indem ich mich gegen Sprüche wehre und ihnen klar sage, dass sie falsch liegen. Homosexualität ist keine Krankheit, sondern eine von vielen Identitäten. Nur gibt es leider einige Leute, mit denen man nicht kommunizieren kann, weil sie zu verschlossen sind, um zuzuhören.

Was sind deine Wünsche und Forderungen an die Gesellschaft und Politik?
Was muss geändert werden?

Rey: Die Regierung soll sich besser über unsere Community informieren. Alle, die sich jetzt schon einsetzen, dürfen nicht aufhören, die Leute zu sensibilisieren. Wir müssen mutig bleiben. Wichtig ist es auch, der LGBTQ-Community eine Plattform zu geben, mehr über sie zu berichten. So wird es auch für diejenigen sicherer, die sich noch verstecken müssen.
Jamal: Unser Kampf geht weiter. Wir wollen, dass an so vielen Orten wie möglich für LGBTQ-Leute im Alltag eine Normalisierung entsteht. Viele Menschen akzeptieren uns, aber es gibt immer noch Dinge, die fehlen. Zum Beispiel heisst es in der ASZ und an vielen anderen Orten, alle Menschen seien gleich und willkommen, aber leider ist die LGBTQ-Community nicht sichtbar. Besonders geflüchtete homosexuelle Menschen sind unsichtbar.

Mir ist aufgefallen, dass an vielen Orten, wo sich Aktivistinnen und Migrantinnen treffen, nicht offen über LGBTQ gesprochen wird. Wie siehst du das?
Rey: Es wird schon darüber gesprochen, dass Homosexualität ein Fluchtgrund ist. Nur nicht laut genug. Es ist zwar bekannt, dass es viele geflüchtete LGBTQ gibt, aber wir werden von aktivistischen Kreisen zu wenig unterstützt. Wir geflüchteten Queers kommen zusammen, reden über unsere Schwierigkeiten und unsere Fluchtgeschichten. Wir haben ausreichend Beweise. Aber niemand setzt sich für uns ein, niemand trägt unsere Geschichten an die Öffentlichkeit. Die Verantwortlichen bemühen sich nicht, für unsere Sicherheit zu sorgen.
Jamal: Das habe ich auch gemerkt. Viele denken, alle Personen mit Fluchthintergrund hätten die gleichen Bedürfnisse. Ja, alle brauchen einen ruhigen Ort zum Lernen, zum Leben und um sich zu erholen. Oft werden Geflüchtete einfach alle gleichbehandelt; und die Homosexuellen verschwinden in dieser Gruppe, und man vergisst, dass sie spezielle Bedürfnisse haben, um sich sicher fühlen zu können.

Wie können heterosexuelle Menschen dazu beitragen, LGBTQ-Menschen mit Fluchthintergrund besser zu begegnen?
Rey: Ich wünsche mir mehr Dialog, um gegenseitiges Verständnis zu fördern. LGBTQ-People erleben hier dieselben Schwierigkeiten wie in den Philippinen. Aber hier habt ihr den Luxus von Plattformen wie Radio Lora und Radio Rabe. Ihr könnt euch öffentlich aussprechen und andere Leute motivieren, sich auch zu wehren, sodass wir uns sicherer fühlen können. Man muss jetzt etwas unternehmen, sonst passiert es nie.
Jamal: Man muss mehr darüber sprechen. Ich bin sicher, dass wir durch Gespräche mehr Verständnis füreinander erreichen. Dann müssen sich homosexuelle Geflüchtete nicht mehr verstecken.

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