29. Juli 2020 Amine Diare Conde

Ich hatte einen Traum

Stories of Helvetia. Illustration: Itzíar Tesán / itziartesan.com

Offen sein ist anstrengend, oder: Als mich Mutter Helvetia in ihre starken Arme nahm, ist mir eine 1. August-Rede eingefallen.

Ich hatte einen Traum. Mutter Helvetia nahm mich in ihre starken Arme, drückte mich fest und sagte: «Amine, ich verspreche dir, dass ich dich zu meinem Sohn mache und in zehn Jahren zum Präsidenten des Nationalrats.» Ich bin etwas erschrocken, aber ich habe mich auch gefreut. Am nächsten Tag habe ich meine erste 1. August-Rede vorbereitet. Hier ist sie.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Ich bin sehr dankbar, dass Sie mich gewählt haben. Sie vertrauen darauf, dass ich für die Zukunft unseres Landes einen wichtigen Beitrag leisten kann. Menschen, die von überall auf der Welt stammen, nennen heute unser Land ihre Heimat. Sie leben hier und prägen die Kultur, das Geistes- und auch das Wirtschaftsleben in unseren Städten. Es ist ein Gebot der Stunde, dass sie, wenn sie den Schweizer Pass haben, auch in der Politik mitwirken.

Die Schweiz ist keine Insel

Die jüngste Entwicklung der Flüchtlingszahlen führt uns vor Augen: Die Schweiz ist keine Insel. Die Auswirkungen der Kriege und Krisen in anderen Weltregionen reichen bis in unser Land. Auch wir hier bekommen zu spüren, dass die Welt an vielen Stellen aus den Fugen geraten ist. Das Coronavirus hat das nur noch bestätigt. Es hat uns gezeigt, dass wir alle miteinander verbunden sind, von Osten bis Westen und von Norden bis Süden. Das Coronavirus kümmert sich nicht um Landesgrenzen.

Unsere Grenzen können uns vielleicht vor den armen Flüchtlingen schützen, aber nicht vor unserer eigene Bevölkerung. Fast 37% unserer Einwohner haben einen Migrationshintergrund. Die ganze Welt ist bei uns, und unser Pass gibt uns auch die Möglichkeit, um die ganze Welt zu bereisen; etwas, was für viele Menschen ohne Schweizer Pass unmöglich ist.


Am Freitag, 13. März 2020 war ich in einem Geschäft der Migros. Was ich gesehen habe, hätte ich mir nicht vorstellen können. So viele Leute mit völlig überfüllten Einkaufswagen hamsterten Nahrungsmittel wie verrückt! Man vergisst oft, dass es Leute in unsere Gesellschaft gibt, die von ganz wenig Geld pro Tag leben müssen, wie zum Beispiel die abgewiesenen Asylsuchenden oder Sans-Papiers.

Offen sein ist anstrengend

Über die Ursachen der anhaltenden Migration und Lösungen für eine friedlichere und wirtschaftlich gerechtere Welt kann man gut debattieren. Die Fakten sind aber nicht wegzudiskutieren: Die Schweiz ist heute ein Einwanderungsland und wird es auf absehbare Zeit bleiben. Wir sind schon lange auf dem Weg in eine interkulturelle Gesellschaft, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Die offene Gesellschaft verlangt uns allen einiges ab: jenen, die ankommen, und jenen, die sich öffnen müssen für Hinzukommende. Und offen sein ist anstrengend.

Ja, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, das ist wahr: Offen sein ist anstrengend, dies erleben wir immer wieder. Wo unterschiedliche Kulturen miteinander leben, klappt das nicht reibungslos. Vielmehr müssen wir uns darum bemühen. Das Miteinander braucht Toleranz, Offenheit und Geduld. Wir können uns nur verstehen und akzeptieren, wenn wir uns in den Dialog begeben und einander auf Augenhöhe begegnen.


Die offene Gesellschaft verlangt uns allen einiges ab: jenen, die ankommen, und jenen, die sich öffnen müssen für Hinzukommende. Und offen sein ist anstrengend.


Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich möchte Sie ermuntern: Machen Sie heute, aber auch in den kommenden Tagen, Gebrauch von den vielen Gelegenheiten, Ihre Nachbar*innen sowie andere Kulturen ganz unkompliziert und ohne Schwellenangst kennenzulernen. Setzen Sie sich auseinander mit der erstaunlichen, überraschenden Vielfalt, in der wir leben. Diskutieren Sie mit, stellen Sie einander all die Fragen, die Sie bewegen.

Viele Ängste und Vorurteile rühren von Nichtwissen her. Was man nicht kennt, was einem fremd vorkommt, ruft oft automatisch Ablehnung hervor. Es sei «leichter, ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil», wusste schon der geniale Physiker und Nobelpreisträger Albert Einstein.

Ein inhumanes Land ist arm

Ich ermutige Sie, eigene Überzeugungen zu prüfen und die Möglichkeit zu nutzen, miteinander ins Gespräch zu kommen und Neues zu erfahren, Fremdes mit allen Sinnen aufzunehmen und das alles zu geniessen. Solche Erfahrungen sind auch deshalb so wichtig, weil wir bis heute oft erleben, dass das Fremde an sich abgelehnt wird. Sie kennen die bedrückenden Bilder von ausgebrannten Flüchtlingsunterkünften, Sie kennen die bedrückenden Berichte über rassistische Ausschreitungen. Dagegen müssen wir uns verwehren und unsere Werte hochhalten. Und ich bin froh, dass viele Bürgerinnen und Bürger das tun.

Rückwärtsgewandte und menschenverachtende Einstellungen machen unser Land inhuman und ärmer. Vielfalt hingegen macht reicher. In jeder Hinsicht. Wir erleben nicht nur ein Mehr an Kultur, wir sind auch aus Gründen des Arbeitsmarkts und der Demografie dringend darauf angewiesen, Menschen aus anderen Ländern für uns zu gewinnen.

Stellen sie sich vor: In der Schweiz leben nur schweizerische Schweizerinnen und Schweizer, ohne Kakaobohnen aus Afrika und Südamerika für unsere Schokoladenindustrie, ohne Pasta von Giovanni, ohne Kebab von Demirkan, ohne Reis von Huang, ohne Curry von Raja und ohne Geld von Ausländer*innen in unseren Banken.

Wir erhalten viel: schnelle Fussballspieler aus Kosovo oder Kamerun, Nobelpreisträger und Parteigründer mit deutschem Migrationshintergrund, Uhrenindustrieretter aus dem Libanon, viel ausländische Freundlichkeit, Offenheit, Leichtigkeit und Liebe... Aber wir haben auch viel zu bieten: Wir geben Freiheit, Schutz und eine inspirierende Demokratie.

Die beste Gesellschaft für uns alle ist die solidarische – mit ihr können wir alles erreichen.

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