14. November 2016 Samuel Häberli

«Mobile Rechtsberatung» gegen die Repression (Teil 2)

Wie sich die Zivilgesellschaft gegen die Eingrenzungen wehrt, welche Sans-Papiers die Bewegungsfreiheit raubt.

Eine Chronologie der Ereignisse aus Sicht der Freiplatzaktion Zürich.

Seite 2/2: Die «mobile Rechtsberatung» wird Realität

Ich nahm aufgrund dieser Ausgangslage Kontakt mit der für Eingrenzungs-Verfügungen zuständigen Person beim Migrationsamt des Kantons Zürich (nennen wir ihn Herrn Meier) auf, erläuterte detailliert die Problematik für die Betroffenen und drängte auf eine niederschwellige Lösung. Herr Meier, bei dem praktisch alle Eingrenzungs-Verfügungen über den Tisch gehen, entgegnete mir als erstes, die Freiplatzaktion wolle ja ohnehin nur, dass «alle hierbleiben» könnten. Abgewiesene Asylsuchende müssten das Land jedoch verlassen. Ich erinnerte Herrn Meier daran, dass in der Schweiz auch abgewiesene Asylsuchende Rechte haben würden und die Verfügung des Migrationsamtes eine Beschwerdemöglichkeit innert 30 Tagen vorsehe.

Die Praxis des Migrationsamtes erschwert aber das grundsätzliche Beschwerderecht der Betroffenen massiv oder verunmöglicht dieses gar.

Tatsächlich suchten uns praktisch keine Menschen mit einer Eingrenzungs-Verfügung mehr auf, auch bei der SPAZ und der Autonomen Schule meldeten sich nur noch wenige Betroffene. Nach einer amtsinternen Abklärung beschied mir Herr Meier, das Migrationsamt halte an seiner Praxis fest, man könne nicht entgegen kommen. Wenn die Notunterkünfte Ausnahmebestätigungen für einen Rechtsberatungstermin ausstellen würden, dann könne von den abgewiesenen Asylsuchenden ja jederzeit behauptet werden, er oder sie müsse zu einem Rechtsberatungstermin nach Zürich, weshalb eine Missbrauchsgefahr bestehe. Aber, fügte Herr Meier zum Schluss noch an, die Freiplatzaktion könne ja «mobile Rechtsberatung» betreiben und die Betroffenen vor Ort aufsuchen – eine beispiellose Arroganz und Machtdemonstration. Das Gespräch und auch diese letzte Bemerkung verdeutlichte, wenn auch wenig überraschend, dass das Migrationsamt die von ihm «Eingegrenzten» nicht als Menschen betrachtet, sondern als anonyme Objekte.

Tragischerweise erwies sich die Provokation von Herrn Meier als Prophezeiung. Die von der Eingrenzung betroffenen Personen wagten sich nicht mehr nach Zürich – bei einer Kontrolle durch die Polizei ausserhalb der Gemeinde droht ihnen eine Gefängnisstrafe. Die Etablierung eines Ausnahmbewilligungssystems (zwecks Aufsuchens einer Rechtsberatungsstelle) war unmöglich. Gleichzeitig war uns allen bewusst, dass viele Menschen in den Notunterkünften von einer Eingrenzung betroffen sein mussten, deren Beschwerdefrist demnächst ablaufen würde. Es musste also dringend gehandelt werden. Aktive der Autonomen Schule und Vorstands-Leute von der Freiplatzaktion suchten daher die Notunterkünfte auf und versuchten sich ein Bild über das Ausmass der ergangenen Eingrenzungs-Verfügungen zu verschaffen. Verfügungen, deren Beschwerdefristen noch liefen, wurden entgegen genommen über die SPAZ, Freiplatzaktion und Autonome Schule bearbeitet, teilweise mit Unterstützung von Anwälten und Anwältinnen. 
Auf diese Weise konnten mehrere Dutzend Beschwerden beim Zwangsmassnahmengericht eingereicht werden. Das Zwangsmassnahmengericht bestätigte bisher im Wesentlichen die Praxis des Migrationsamtes des Kantons Zürich. In einigen Fällen wurde die Dauer der Eingrenzung auf ein Jahr verkürzt, die Eingrenzung um einige Gemeinden erweitert oder auf Bezirksgebiet ausgeweitet. Zu einer vollständigen Aufhebung einer Eingrenzung kam es jedoch, ausser in einer Hand voll Fälle, nie. Die Bilanz ist ernüchternd, sie war jedoch auch voraussehbar.

Die Sichtweise von Sicherheitsdirektor Mario Fehr

Allen Beteiligten war bewusst, dass ergänzend zur Rechtsarbeit auch der politische Weg beschritten werden müsste. Da bekannt ist, dass Mario Fehr, Sicherheitsdirektor des Kantons Zürich und streitbarer SP-Mann, auf öffentliche Kritik sehr heikel reagiert, versuchten SPAZ und Freiplatzaktion, ihre Anliegen über Leute der SP an diesen zu tragen. Gesetzt wurde vorerst also auf den Dialog und erst in einem zweiten Schritt auf den Gang an die Medien.
Sicherheitsdirektor Mario Fehr liess Anfang September, rund drei Wochen nachdem der Tages-Anzeiger das Thema erstmals etwas ausführlicher aufgriff, seine Sichtweise zur Eingrenzungspraxis über die Medien verlauten. Er hielt in einer Medienmitteilung fest, dass das Migrationsamt gegen 179 Personen, die sich als abgewiesene Asylsuchende im Kanton Zürich aufhalten würden und die Schweiz verlassen müssten, eine Eingrenzung verfügt habe. Bei über 100 Personen soll «eine Straffälligkeit» gemäss Strafgesetz oder Betäubungsmittelgesetz vorliegen. Das Migrationsamt des Kantons Zürich verfüge diese Massnahme «zur Durchsetzung des Wegweisungsvollzugs» vor allem gegenüber Straffälligen, gezielt aber auch gegenüber Personen, die die Schweiz rasch verlassen könnten. Der Kanton sei zudem zu «konsequentem Vollzug» verpflichtet. 
Die Zahlen des Migrationsamtes lassen sich nicht überprüfen. Gut möglich, dass sich unter diesen «über 100 Personen» auch noch Menschen mit Verurteilungen wegen sogenannt «rechtswidrigem Aufenthalt» befinden. Auch ist völlig unklar, nach welchen Kriterien das Migrationsamt beurteilt, ob eine Person die Schweiz «rasch verlassen» kann oder nicht. 

Inzwischen hat die Sicherheitsdirektion veranlasst, dass, in Anlehnung an einige Urteile des Bezirksgerichts, nur noch auf Bezirksgebiet (und nicht mehr, wie bisher, auf Gemeindegebiet) eingegrenzt wird. Menschen, die bereits rechtskräftig auf Gemeindegebiet eingegrenzt wurden, können zudem die Ausweitung der Eingrenzung auf Bezirksgebiet wiedererwägungsgweise beim Migrationsamt beantragen. Beides gilt allerdings nur für Personen, die nicht straffällig geworden sind. Ein niederschwelligerer Zugang zu den Rechtsberatungsstellen konnte hingegen nicht erreicht werden. Fehr ist der Meinung, die Betroffenen könnten ihre Rechte mit der vom Migrationsamt etablierten Ausnahmebewilligungs-Praxis ausreichend wahrnehmen... 
Zudem soll die Eingrenzungspraxis nun evaluiert werden. «Erfolgreich» wäre die Massnahme für den Sicherheitsdirektor dann, wenn möglichst viele Betroffene nicht mehr in den offiziellen Statistiken erscheinen – also untergetaucht oder tatsächlich (illegal) ausgereist wären. Das entspräche zwar nicht gerade dem mustergültigen Bild eines „konsequenten Vollzugs“. Diese behördliche Praxis der Illegalisierung lässt sich aber in der Öffentlichkeit und in Bern weiterhin gut verkaufen.

Wie viel Wert hat ein Mensch?

Die Eingrenzungspraxis reiht sich ein in widerwärtige Massnahmen wie Ausschaffungs- und Beugehafthaft, Haft wegen widerrechtlichem Aufenthalt, Rayon-Verbot und Nothilfe.

Diese Massnahmen dienen alle dazu, das Leben von Menschen ohne gesetzliche Aufenthaltsberechtigung in systematischer Weise unerträglich zu machen.

Sie dienen dazu, Menschen zu entmutigen, sie zum Aufgeben zu zwingen, sie zu brechen. Dabei wird bewusst in Kauf genommen, dass die physische und psychische Integrität der von diesen Massnahmen betroffenen Menschen regelmässig verletzt wird.
Klar, nach geltendem Gesetz müssen abgewiesene Asylsuchende die Schweiz verlassen. Ihnen wird das Recht abgesprochen, hier zu bleiben, auch wenn sie dies – aus subjektiv stets nachvollziehbaren Gründen – wollen. Doch wie weit dürfen Behörden gehen, um den Willen von Menschen zu brechen? Ein Mensch ohne Aufenthaltsberechtigung bleibt ein Mensch. Er hat eine individuelle Lebensgeschichte, vielleicht geliebte Familienangehörige, Ehepartner oder Kinder, auf jeden Fall Sehnsüchte, Hoffnungen, er kennt Ängste, Freuden, Trauer und Wut. Ein Mensch hat Würde. Und er hat sogar ein Recht auf menschenwürdige Behandlung. Unabhängig davon, ob er in der Schweiz ohne Aufenthaltsberechtigung lebt.

«Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen», steht in Artikel 7 der Schweizerischen Bundesverfassung.

«Die Menschenwürde», so schreibt Jörg Paul Müller, emeritierter Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, «gewinnt ihre Konturen erst in der Anerkennung, im Geltenlassen der Einmaligkeit und jeweiligen Besonderheit menschlicher Existenz, in der Lebenspraxis von Menschen, die sich gegenseitig in ihrer Würde und somit in ihrer Gleichwertigkeit respektieren. Menschenwürde verbietet, dem andern je die Möglichkeit zur Entfaltung und Entwicklung abzusprechen […].»

Für Herrn A.T. bleiben solche Anschauungen reine Theorie. Seine Bewegungsfreiheit wird während zweier Jahre allein aufgrund des fehlenden Aufenthaltsrechts eingeschränkt. Der Grenzverlauf des Bezirks Uster (eine Ausweitung der Eingrenzung auf Bezirksebene konnte inzwischen erreicht werden) ist seine Gefängnismauer. Sollte Herr A.T. den Bezirk Uster ohne Ausnahmebewilligung überschreiten und wird er dabei von der Polizei erwischt, so droht ihm eine Gefängnisstrafe von mehreren Monaten. Die ihm in der Schweiz nahe stehenden Personen hat Herr A.T. bisher in Zürich getroffen. Dort hat er auch an Angeboten des Solinetzes teilgenommen. Die sozialen Kontakte und die Aktivitäten halfen bisher, das Leid als Marginalisierter, als Mensch mit abgewiesenem Asylgesuch zu mildern.
 
Dieser Text ist zuerst im Rundbrief der Freiplatzaktion Zürich erschienen und wurde für die Papierlose Zeitung leicht aktualisiert.

Seite 1: Die Entdeckung einer neuen Repressionsstufe
Seite 2: Die «mobile Rechtsberatung» wird Realität

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