12. September 2020 Alarmphone

Moria: Schauen wir nicht länger zu!

Menschen auf Lesbos fordern Essen, Wasser und Freiheit (12. September 2020). Bild: Dunya Collective / Twitter

Seit vier Jahren wissen wir um diese Lager. Um die schrecklichen Bedingungen. Die Gewalt. Den Hunger. Die Kälte. Die Hitze. Die Suizide unter den Kindern. Schauen wir nicht mehr länger zu! Eine Rede nach dem Brand in Moria.

ein böses erwachen. am mittwochmorgen ereilen uns schlimme bilder. moria brennt in der nacht vom dienstag auf den mittwoch vollständig ab. zwischen 10.000 und 13.000 menschen harren im nirgendwo aus.

sie wollen nach mytilini. sie wollen auf die fähre. sie wollen endlich lesbos verlassen. aber die polizei kesselt sie ein. hindert sie am weitergehen. die menschen warten in den strassen. in den olivenhainen. ohne wasser. ohne essen. sie schlafen ohne schutz unter der sengenden sonne. kinder. frauen. männer. menschen. ein freund berichtet, dass immer wieder neue feuer ausbrechen. dass die polizei ständig tränengas einsetzt. dass verlassene kinder schreien, die ihre eltern verloren haben. dass menschen verschwunden sind.

die meldungen in den zeitungen überschlagen sich. europäische medien sind sich einig, dass die bewohner*innen das feuer gelegt haben. weil die quarantäne wegen covid 19 zum siebtenmal verlängert wurde. weil positiv getestete menschen sich weigerten, das lager zu verlassen. weil andere sich weigerten, im lager bleiben zu müssen.


ein freund berichtet, dass immer wieder neue feuer ausbrechen. dass die polizei tränengas einsetzt. dass verlassene kinder schreien. dass menschen verschwunden sind.


augenzeug*innen hingegen berichten, dass exponenten der europäischen rechtsextremen sich in der gegend ums lager rumtreiben. dass das feuer an strategisch wichtigen punkten gleichzeitig ausgebrochen sei. und sie erinnern uns daran, dass die faschisten 2020 bereits zweimal einrichtungen anzündeten, die den geflüchteten auf lesbos zugute kamen.

weiss man es? ist es wichtig? ist es erstaunlich? ist es nicht eher erstaunlich, dass es nicht schon längst passiert ist? die europäische öffentlichkeit ist entsetzt. traurig. wütend. aber wir fragen warum!? warum erst jetzt?


hotspots, die so schrecklich sind, das selbst erfahrene NGO mitarbeiter*innen sagen, dass sie niemals und nirgendwo so schlimme verhältnisse gesehen hätten.


seit vier jahren wissen wir um diese lager. seit vier jahren wissen wir um die schrecklichen bedingungen. die gewalt. den hunger. die kälte. die hitze. die suizide unter den kindern. mangelnde hygiene und gesundheitsversorgung. seit vier jahren wissen wir um die grauenhaften hotspots, die an den europäischen grenzen entstanden sind. hotspots, die so schrecklich sind, das selbst erfahrene NGO mitarbeiter*innen sagen, dass sie niemals und nirgendwo so schlimme verhältnisse gesehen hätten.

moria und die anderen lager: ein flackerndes mahnmal. riesige warnschilder an geflüchtete in der türkei: bleibt weg! wir wissen es. unsere regierungen wissen es. und doch: es geschieht nichts. wir schauen zu. wir halten es aus. wir ertragen es.

im sommer 2019 wurde in griechenland eine neue regierung gewählt. seither nimmt die gewalt noch zu. die küstenwachen greifen menschen an, die in see-untüchtigten gummibooten das meer überqueren. sie schicken sie auf aufblasbaren rettungsinseln ohne motor und telefone ins offene meer urück. sie schlagen. sie schiessen. sie schieben die schutzlosen boote in türkische gewässer zurück.

unser freund mohammad gulzal wurde im märz an der grenze am evros fluss von griechischen grenzsoldaten erschossen. polizisten räumen in athen und anderen städten alle häuser in denen geflüchtete leben und transportieren die menschen in geschlossene lager.


unser freund mohammad gulzal wurde im märz an der grenze am evros fluss von griechischen grenzsoldaten erschossen.


und in den hotspots auf den inseln wird das recht auf asyl ausgesetzt. menschen werden ohne verfahren abgewiesen. es bleibt ihnen nur der gang zu den schmugglern und den traffikern, um die griechischen inseln zu verlassen und der drohenden deportation in ihre herkunftsländer entgehen zu können. in athen erwartet sie die strasse. und die ständige angst ohne papiere verhaftet und inhaftiert zu werden. wir wissen es. unsere regierungen wissen es.

und doch: wir schauen zu. wir halten es aus. wir ertragen es.

nach dem brand in moria schaut die welt wiederum anklagend auf die griechische hölle. aber wir klagen die gesamte europäische union und die schweiz an. griechenland ist ein resultat des EU-türkei deals, der von deutschland entworfen und von den europäischen staaten euphorisch begrüsst wurde.

griechenland ist ein resultat der dublin order, die den reichen mittel- und westeuropäsichen staaten zugute kommt. griechenland ist ein reslutat des europäischen rassismus und der gier nach eigenem wohlstand auf kosten anderer. griechenland ist ein resultat politischer feigheit und des opportunismus: regierungen und die verantwortlichen beugen sich in vorauseilendem gehorsam den forderungen rechtsextremer parteien. auch in der schweiz nutzen diese die gunst der stunde und verbreiten ihre hetze ungehindert und in zusammenarbeit mit liberal-demokratischen kräften.


griechenland ist ein resultat politischer feigheit und des opportunismus: regierungen und die verantwortlichen beugen sich in vorauseilendem gehorsam den forderungen rechtsextremer parteien.


wir fordern von bundesrätin karin keller sutter und von allen verantwortlichen, die menschen von den griechischen inseln aufzunehmen. nicht 23 jugendliche, wie im april geschehen. nicht 20 besonders verletzliche menschen, wie die stadt bern gestern verkündete. wir schämen uns zutiefst angesichts dieser zahlen. und fragen: wie wollt ihr sie denn auswählen, diese 20 menschen? nein: wir fordern die aufnahme von allen menschen, die auf den griechischen inseln unsäglichem leiden ausgesetzt sind. heute morgen erreicht uns die nachricht, dass die menschen, die in den strassen von lesbos ausharren, in militärschiffen untergebracht werden sollen.


13.000 menschen für tage, vielleicht wochen, vielleicht monate auf militärschiffen? wie stellen wir uns das vor? nein! wir wollen uns das nicht vorstellen!


ja, wie stellt ihr euch das vor? 13.000 menschen für tage, vielleicht wochen, vielleicht monate auf militärschiffen? wie stellen wir uns das vor? nein! wir wollen uns das nicht vorstellen! schauen wir nicht weiter zu. halten wir es nicht länger aus. ertragen wir es nicht länger.

wir fordern offene grenzen.
wir fordern sichere fluchtwege.
wir fordern die bekämpfung von fluchtursachen und wirtschaftlicher ungleichheit.
wir fordern gleiche rechte und bedingungslose bewegungsfreiheit für alle.
wir fordern mut.
wir fordern integrität.
wir fordern aufstand. stehen wir alle auf!

stellen wir uns hinter die menschen in den transitzonen – griechenland, italien, spanien, marokko, libyen, malta – und anderswo… bieten wir sichere räume für schutzsuchende! bauen wir brücken!
reissen wir die mauern in den köpfen ein!
legen wir gemeinsam hand an die festung europa!

Diese Rede wurde von Vertreter*innen von Alarmphone am 10. September 2020 in Zürich gehalten, an der Demonstration anlässlich des Brandes von Moria.

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