25. Juni 2011 Bleiberecht Bern

Nach dem «Arabischen Frühling»: Eine neue Mauer gegen Migrant_innen?

Die im Herbst 2010 ausgebrochenen Revolten in Nordafrika und im Nahen Osten haben eine neue Migrationswelle ausgelöst. Nur ein kleiner Teil gelangt jedoch nach Europa.

Die sozialen und politischen Umwälzungen, die die Länder des Maghrebs und des Nahen Osten seit Dezember 2010 erleben, boten Anlass, die traditionellen, teilweise islamophoben Denkund Handlungsmuster des Westens gegenüber der Region – «Unfähigkeit, sich zu modernisieren» sowie «allgemeine Neigung zum Terrorismus» – zu hinterfragen. Das hat jedoch noch lange nicht gereicht, um die widersprüchliche Haltung der Europäischen Union und der Schweiz gegenüber den Revolten aufzuheben.Einerseits werden die Demokratisierungsprozesse in der Region begrüsst, andererseits jedoch die Kontrollmassnahmen gegen die fliehenden Menschen verstärkt. 

Die Geschehnisse haben einen Einfluss auf die Migrationsströme nach Europa. Dies vor allem aufgrund des Krieges in Libyen. Dieses Land zählte zwischen 1,5 und 2 Millionen ausländische Arbeiter_innen aus Bangladesch, China, den Philippinen, Indien sowie Ägypten und Tunesien. Seit Beginn des Krieges haben ca. 700‘000 Menschen Libyen verlassen, hauptsächlich in Richtung Tunesien, Ägypten und der südlichen Grenzen. Sie wurden in diesen Ländern in einer bemerkenswerten Art und Weise von der lokalen Bevölkerung aufgenommen und dies trotz der mangelnden Infrastruktur und der grossen Schwäche der so genannten „internationalen humanitären Hilfe“.

Darüber haben die Medien in Europa nicht berichtet. Hingegen mangelte es nicht an Berichten über die «überschwemmende Welle» auf der Insel von Lampedusa (Italien) – für diejenigen, die bei der Überquerung nicht den Tod fanden! Die Zahlen zeigen jedoch ein anderes Bild: Bis Ende Mai 2011 sind 15‘000 Flüchtlinge von Libyen nach Lampedusa geflohen. Das Gleiche gilt für Flüchtlinge aus Tunesien, von wo aus 25‘000 Menschen nach Italien gekommen sind.

Die EU und die Schweiz zögerten nicht, die Mauer gegen die aussereuropäischen Migrant_innen auszubauen. Und sie verlangen von den Regierungen südlich des Mittelmeers «grössere Härte». Das motiviert diese Regierungen, die polizeilichen und militärischen Mittel zu stärken, um „Ordnung zu bewahren“.

Gaddafi war ein Vorzeigeschüler der »Festung Europa». Sein „Sturz“ läutet die Geburt eines verstärkten Dispositivs in Europa ein, welches Kontrollen innerhalb des Schengen-Raumes miteinbezieht. In einem Satz: Die EU und die Schengen-Mitgliedstaaten setzen ausschliesslich eine noch repressivere Politik um. Diese hat mörderische Folgen: Seit Anfang 2011 sind 1‘150 Menschen im Mittelmeer gestorben oder verschwunden. Diese Zahl steigt täglich.

Während einige tausend Migrant_ innen die italienischen Küsten erreicht haben, ist der italienische Premierminister S. Berlusconi am 4. April 2011 nach Tunis gereist, wo er von einem «Menschen-Tsunami» gesprochen hat. Er hat der tunesischen Übergangsregierung ein Abkommen auferlegt, das Folgendes enthält: Italien bewilligt denjenigen Flüchtlingen, die das Meer schon überquert haben, ein sechsmonatiges Schengen-Visa. Hingegen werden alle neuen Migrant_innen wieder nach Tunesien zurückgeschickt. Am 7. Mai wurde ein erstes Schiff von den tunesischen Grenzwächter aufgehalten.

Dieses Abkommen ist der Ursprung einer «vorübergehenden Krise» zwischen Italien und Frankreich. In der Tat hat Frankreich gegen diese Visa protestiert, weil sie den Migrant_innen erlauben, im Schengen-Raum zu reisen. Seither hat Frankreich die Grenzkontrollen intensiviert, schickt Tunesier_innen zurück und blockiert die Grenzen (und verstösst somit selbst gegen das Schengen-Abkommen...). Es ist ironisch zu bemerken, dass – um nicht zurückgeschickt werden zu können – die Visa-Inhaber_innen die Summe von 62 Euro täglich aufweisen müssen, also 1860 Euro monatlich, während der monatliche Mindestlohn in Frankreich...1365 Euro beträgt! Seither sind die Grenzen jedes Landes also wieder eingeführt worden.

Die Schweiz, als Mitglied des Schengen-Raumes, unterscheidet sich nicht von dieser Praxis. Sie beteiligt sich aktiv an der verschärften Grenzkontrollpolitik. Seit der Einführung des Regelwerkes von Schengen/ Dublin finanziert sie jährlich mit durchschnittlich 9 Millionen Euro das Verschliessen der EU-Aussengrenze. Neulich hat die Schweiz ihr Einverständnis zur Stärkung von Frontex (Agentur der Aussengrenzen, eingeführt von den Mitgliedstaaten) gegeben und beteiligt sich an den Diskussionen um die Kontrolle der nächsten «Flüchtlingswellen». Die Medien berichten über einen «Anstieg von 50% bei des Asylsuchenden aus Nordafrika». Diese Zahl betrifft...612 Persoen.

Bundesrätin Simonetta Sommaruga schlägt vor, Bundeslager einzurichten, um die Asylentscheide zu beschleunigen und somit Menschen schneller ausschaffen zu können. Gleichzeitig wird «wegen des Exodus aus Nordafrika» von einer Überlastung der Empfangszentren des Bundes gesprochen. Um die Wirtschaftsflüchtlinge von den «tatsächlichen» Flüchtlingen zu unterscheiden, sollen Internierungslager (sic!) aufgebaut werden, «wo das ganze Asylverfahren abgewickelt wird, von der Ankunft bis zur Rückführung», so der Berner Regierungsrat Hans-Jürg Käser.

Die arabischen Revolten haben die Migrations- und Grenzpolitik der EU und der Schweiz stark unter Druck gesetzt. Es ist heute noch unklar, wie genau die neuen Kontrollmechanismen der Migrationsströme aussehen werden – weder an den Aussengrenzen der EU, noch innerhalb des Schengen-Raumes. Die EU hat auf Druck Italiens und Frankreichs schon mal entschieden, in «Ausnahmefällen» (was ist ein Ausnahmefall?) die internen Grenzen wieder herzustellen. Doch eines ist klar: Nur durch eine internationale Widerstandsbewegung gegen Repression und Kontrolle kann vermieden werden, dass unter dem Deckmantel des internationalen Rechts weiterhin tausende von Menschen während ihrer Flucht getötet und menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen im Westen ausgesetzt werden.

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