2. Juli 2019 Pir Baba

Pir Babas wunderbare Geschichten

Illustration: Itzíar Tesán

Seenot, Beeren und ein leckerer Hase: Mit viel Sinn für Tragikomik und Allzumenschliches erzählt Pir Baba von seiner Flucht aus dem Iran in die Schweiz.

Wie ich hierhergekommen bin? – Ein Ereignis ist für mich sehr wichtig, weil ich dabei anderen Menschen helfen konnte. Als wir mit dem Gummiboot auf dem Meer waren und kein Benzin mehr hatten. Soll ich davon erzählen?

Gut. Das war so. Die iranische Regierung wollte die afghanischen Menschen, die im Land lebten, nach Syrien in den Krieg schicken. Deshalb musste ich zum zweiten Mal in meinem Leben flüchten. Meine Familie und ich sind früher schon von Afghanistan in den Iran geflüchtet, und nun musste ich es wieder tun. Ich kam in die Türkei. Dort habe ich etwas erlebt, was ich nicht erzählen möchte, weil es für mich zu traurig ist. Ich blieb bei einem – wie heissen die Menschen, die andere ohne Papiere transportieren? – genau, bei einem Schlepper. Ich war also bei dem Schlepper und habe dort zwei Wochen lang gewartet. Als ich einmal zum Spazieren nach draussen ging, wurde ich festgenommen und kam für einen Monat in ein türkisches Gefängnis.

Als ich wieder freikam, ging meine Reise weiter nach Griechenland. Mit einem Motor-Gummiboot. Wir wollten von der türkischen Küste zur Insel Mitilini (Anm. der Redaktion: Lesbos) fahren. Um vier Uhr morgens fuhren wir zum Meer, pumpten das Schlauchboot auf und trugen es zum Wasser. Dann stiegen wir ein. Es kamen aber immer mehr und mehr Menschen dazu, am Ende drängten sich etwa siebzig oder achtzig Personen in dem nur acht Meter langen Boot, auch viele Kinder. So fuhren wir aufs Meer hinaus. Nach etwa drei oder vier Stunden war das Benzin aufgebraucht. Wir dachten alle, dass wir sterben würden, denn die Wellen waren höher als unser Boot. Viele Leute im Boot wollten aufgeben und zurückrudern, aber ich habe zu ihnen gesagt: «Sorry, wir sind jetzt drei oder vier Stunden bis hierher gefahren. Wir müssen vielleicht nur noch eine Stunde paddeln und dann sind wir in Griechenland. Wir kehren nicht um!»

Alle wollten zurück, aber ich habe es nicht zugelassen. Ich habe einen harten Kopf. Immer wieder sagte ich: «Nein, nicht zurück, wir gehen vorwärts.» Irgendwann haben wir alle Hoffnung verloren. Da bin ich ins Wasser gesprungen. Ich kann gut schwimmen und ausserdem bin ich schwer, etwa hundert Kilo. Ich dachte, es würde helfen, wenn ich im Wasser schwimme und das Boot ziehen helfe. Es ging mir auch um die Kinder. Kinder sind mein Schwachpunkt! Ich kann es nicht ertragen, wenn Kinder weinen. Deshalb sprang ich ins Wasser und half, das schwere Boot zu ziehen, während die anderen im Boot paddelten und ruderten. So haben wir es schliesslich bis Mitilini geschafft.


Geflüchtete sind auch nur Menschen, es gibt gute und schlechte. Wie es im Wald auch immer trockenes Holz und nasses Holz gibt.


Als alle ausgestiegen waren, entdeckte ich, dass man mir mein Geld gestohlen hatte, während ich im Wasser war. Ich hatte meinen Rucksack im Boot gelassen, darin war mein ganzes Geld. Es macht mich immer noch traurig, wenn ich daran denke. Ich habe für diese Leute mein Leben aufs Spiel gesetzt, ich wäre wirklich fast gestorben, als ich dieses schwere Boot durchs Wasser zog – und unterdessen stahlen sie mir mein Geld.

Einen ganzen Monat lang lebte ich auf Mitilini, ohne mir etwas kaufen zu können, ohne Geld, ohne Kleider, ohne irgendetwas. Wenn jemand Essen für die Geflüchteten brachte, musste ich darum kämpfen. Es gab ausserdem ein paar Kinder, für die ich zu sorgen versuchte. Deshalb brauchte ich mehr zu essen. Wenn es ums Essen ging, musste ich frech sein. Ich war auch gemein gegen andere, aber wenn ich das nicht gemacht hätte, wären wohl zwei, drei Kinder vor Hunger gestorben und ich selbst vielleicht auch. Diese Kinder hatten ihre Mutter und ihren Vater verloren. Ich habe sie bei mir behalten und wegen ihnen habe ich mit anderen ums Essen gekämpft, wie es Tiere tun. Das musste ich tun, damit diese Kinder überlebten. Nach zwei oder drei Wochen gelang es zum Glück ihre Eltern zu finden, von denen sie während der Reise getrennt worden waren.

Ich sage es nochmals: Es war für mich eine sehr traurige Erfahrung, dass ich für die Menschen im Gummiboot mein Leben riskierte und sie mir mein Geld stahlen, worauf ich einen Monat lang wie ein Tier leben musste. Ich habe daraus gelernt, dass es auch unter den Flüchtenden verschiedene Menschen gibt. Nicht alle achtzig Menschen im Boot haben mein Geld genommen, einer hat das gemacht. Doch wegen diesem einen Mensch kann ich nicht mehr sagen: Alle Geflüchteten sind gut. Geflüchtete sind auch nur Menschen, es gibt gute und schlechte. Wie es im Wald auch immer trockenes Holz und nasses Holz gibt.

Dies war die Geschichte meiner Reise von der Türkei nach Griechenland. Natürlich gäbe es dazu noch viel mehr zu sagen. Aber sorry, wenn ich alles erzählen sollte, wir wären den ganzen Tag beschäftigt und den nächsten dazu.

***

Kommen wir zu einer weiteren Geschichte. Wisst ihr, wenn ich alles über meine Flucht erzähle, sitzen wir morgen noch da. Aber bei der Flucht ist alles wichtig, jede einzelne Minute entscheidet. Was für mich im Nachhinein besonders zählt, sind die Momente, in denen ich jemandem helfen konnte. Daran möchte ich mich stets erinnern. Zum Beispiel habe ich unterwegs einmal einen Hasen gefangen. Aber ich habe ihn doch nicht gegessen, weil er mir leidtat. Ich hatte diesen Hasen tagelang verfolgt, bis ich ihn endlich erwischte. Aber dann sah ich ihn an und dachte: Hm. Er ist so niedlich. Ich kann ihn nicht essen. Ich kann ihn nicht umbringen. Obwohl ich eine ganze Woche lang nur Beeren gegessen hatte, liess ich ihn laufen.

Dazu kam es, als wir von Griechenland über Makedonien weiter nach Serbien mussten. An der Grenze war jedoch das Militär. Wir fuhren mit Velos in Richtung Grenze. Irgendwann gingen die Velos kaputt und wir gingen zu Fuss weiter. Wir waren eine ziemlich grosse Gruppe. Mehr als vierzig Leute. Seit der Ankunft in Makedonien hatte ich überhaupt nicht mehr geschlafen. Mehrere Tage lang nicht einmal eine Stunde. Irgendwann erreichten wir Serbien. Wir befanden uns in einem Wald, und ich war so erschöpft, ich fühlte mich wie tot. Ich sagte zu den anderen, ich müsse ein wenig ausruhen, und legte mich auf den Boden. Sofort war ich weg. Ich schlief den besten Schlaf meines Lebens – mit dem Kopf auf einem Stein. Wahrscheinlich habe ich da etwa zehn Stunden lang geschlafen. Unterdessen gingen die anderen weiter. Niemand weckte mich.

Als ich endlich erwachte, war ich ganz allein in diesem grossen Wald. Ich weiss bis heute nicht, wo genau das war, aber der Wald war wirklich riesengross. Rasch sprang ich auf die Füsse und sah mich um, doch ausser mir war niemand da. Es war mitten in der Nacht und stockdunkel. Wenn man ganz allein in der Nacht in einem Wald erwacht, weiss man nicht, was man machen soll. Ich marschierte einfach los, ohne zu wissen, wohin. Wahrscheinlich bin ich noch tiefer in den Wald hinein gegangen, denn ich fand keine Strasse und sah und hörte keinen Menschen. Dann sagte ich zu mir: Pir Baba, jetzt ist es fertig mit dir, hier findest du nie wieder heraus. Ich war sehr hungrig und durstig. Nun, etwas ist wirklich gut in Europa: Es gibt überall Wasser zum Trinken! Zuerst fand ich Wasser. Und dann Beeren, diese kleinen, schwarzen, es gibt Joghurt damit – richtig, Brombeeren!

Ich ass so viele Brombeeren, bis mir der Bauch weh tat. Mein Gedanke war: Du musst so viel wie möglich essen, du weisst ja nicht, wann du wieder etwas findest. Dann ging ich weiter ohne einen Plan, wohin ich gehen sollte und wo ich schlafen konnte. Trotzdem ging ich immer weiter. Zum Glück gab es überall Wasser, Bäche und kleine Flüsse, ich habe in dieser Zeit sehr viel Wasser getrunken. Irgendwo blieb ich für die Nacht.

Am zweiten Tag fand ich wieder Beeren und Wasser, und dort liess ich mich nieder. Mir waren Filme in den Sinn gekommen, die ich früher gesehen hatte, und ich dachte, wenn ich an einer Stelle bleibe, würde man mich suchen und irgendwann finden. Deshalb verbrachte ich einen ganzen Tag an diesem Ort, wo es Beeren und Wasser gab, und dann noch einen Tag. Ich ass Beeren und trank Wasser. Am dritten Tag sagte ich zu mir: Pir Baba, du bist ein Flüchtling. Du bist allen egal. Niemand kommt dich suchen, und wenn du ein ganzes Jahr hier bleibst. Nicht einmal deine Familie weiss, wo du bist. Worauf also wartest du? Du musst dich selber retten. Deswegen ging ich nach drei Tagen weiter. Unterwegs fand ich wieder Beeren und ass sie. Trotzdem hatte ich jetzt grossen Hunger und wünschte mir sehr, ich könnte etwas anderes essen.

Am vierten Tag sagte ich zu mir: Pir Baba, du findest niemals aus diesem Wald heraus. Ich war sehr deprimiert und niedergeschlagen. Meine Energie war vollkommen am Ende. In diesem Moment sah ich den Hasen. Er war weiss und schwarz, hinten war er schwarz, und am Kopf und am Vorderleib war er weiss. Ich sah diesen Hasen und sagte: Danke, Gott. Du hast mir Essen geschickt! Sofort rannte ich auf den Hasen zu, doch er lief davon und ich hinter ihm her. Leider war der Hase schnell und ich langsam. Ich war damals ziemlich dick, mein Bauch schwang beim Laufen hin und her, aber ich wollte unbedingt diesen Hasen haben. Mit der Zeit wurde ich müde, es war anstrengend, dem Hasen zu folgen, und ich fragte mich, wie ich bloss dieses Tier fangen konnte. Dann war der Hase auf einmal verschwunden, und ich musste wieder Beeren essen. Diese Beeren! Sie hingen mir zum Hals heraus. Immer nur Beeren. Inzwischen konnte ich nicht mehr viele auf einmal essen, sonst kamen sie mir wieder hoch.


Sofort packte ich ihn an den Ohren, hielt ich ihn vor mich hin und sagte: Ah, heute esse ich etwas Gutes! Dann betrachtete ich den Hasen.


Später am Nachmittag, es war vielleicht der vierte oder fünfte Tag, ich hatte jedes Zeitgefühl verloren, begegnete ich wieder dem Hasen. Pir Baba, sagte ich zu mir, diesmal machst du es besser. Ganz langsam, um ihn nicht zu erschrecken, näherte ich mich ihm. Ich wollte sehen, wo er hinläuft, denn ich sagte mir, dass er wohl irgendwo seine Wohnung hat. Tatsächlich fand ich die Höhle, in der er lebte und sah ihn darin verschwinden. Darauf kauerte ich mich nieder und wartete vor dem Eingang wie die Katze vor dem Mausloch. Wenn der Hase rauskäme, wollte ich ihn sofort packen. Doch dieser freche Hase kam einfach nicht wieder heraus. Gewiss vier Stunden lang habe ich gewartet. Danach hatte ich Rückenschmerzen und sagte mir: Jetzt ist Schluss, du musst etwas essen. Neben der Wohnung des Hasen gab es Beeren. Es war aber eine andere Sorte als die, welche ich bisher gegessen hatte. Ich sagte mir: Wie schön! Es gibt Abwechslung. Und ass von diesen Beeren.

Nach einer kurzen Weile spürte ich meine Füsse nicht mehr. Dann spürte ich meinen Körper nicht mehr und fiel um. Zum Glück blieben meine Augen offen und mein Kopf lag genau so, dass ich auf das Loch des Hasen schaute. Wie lange ich so unbeweglich dalag, weiss ich nicht. In meinem Zustand merkte ich nicht, wie die Zeit verging, ich denke aber, ich lag da gewiss zwölf Stunden lang wie tot. Doch auch der Hase blieb in seinem Haus. Endlich konnte ich meinen Kopf wieder bewegen, meine Schulter, meine Hand, meine Füsse – mein Körper erwachte und ich sagte zu mir: Diese Beeren sollst du nie wieder essen! Jetzt streckte auf einmal der arme Hase seinen Kopf hervor. Sofort packte ich ihn an den Ohren, hielt ich ihn vor mich hin und sagte: Ah, heute esse ich etwas Gutes! Dann betrachtete ich den Hasen. Ich sah seine Augen, wie er mich anschaute. Vorhin, als ich hinter ihm her war, kam er mir ziemlich frech vor. Ich sagte mir: Dieser Teufel von einem Hasen!

Doch wie ich ihn in den Händen hielt, war er auf einmal klein und niedlich. Ich konnte ihn nicht umbringen. Er sah mich mit so grossen Augen an und ich dachte: Was kann ich machen? Okay, sagte ich endlich zu dem Hasen, du kannst gehen. Ich kann dich sowieso nicht töten. Der Hase hatte Glück gehabt. Im Grunde genommen hatte ich noch nie etwas Lebendiges selber umbringen können, das hatte ich ganz vergessen. Also habe ich den Hasen laufen lassen.

Es war eine göttliche Fügung. Als ich nämlich den Hasen losgelassen hatte, lief er in eine Richtung, und da ich ihm nicht mehr folgen wollte, ging ich in die andere. Kurz darauf entdeckte ich am Boden einen Kinderschuh, dann ein T-Shirt und später noch weitere Kleidungsstücke. Die Menschen, mit denen ich vorher geflüchtet war, hatten sie liegen lassen. Es war eine Spur, der ich nachgehen konnte, und eine halbe Stunde weiter kam ich zu einer Strasse.

Immer, wenn ich diese Geschichte erzähle, sehe ich vor mir diese grossen, schwarzen Augen des Hasen. Ich erinnere mich, wie ich dachte, ich schlage ihn gegen einen Baum oder Stein, bis er stirbt. Und wie ich merkte, nein, das kann ich nicht, geh, Hase! Und er geht in die eine Richtung und ich in die andere und finde die Strasse.

Dort war allerdings sofort die Polizei hinter mir her. Sie nahmen mich fest und steckten mich ins Gefängnis. Irgendwo in Serbien. Es war seltsam: Im Wald hätte ich mich über jeden Polizisten gefreut und keiner kam. Als ich aber den Weg aus dem Wald gefunden hatte, war die Polizei gleich da.

Jetzt muss ich eine Zigarette rauchen. Weisst du, wenn ich lange spreche, bekomme ich Kieferschmerzen. Ich habe früher einmal geboxt. Einmal traf mich einer am Kinn, da sprang der Kiefer heraus. Das ist mir passiert, als ich ein Boxer war. Deswegen habe ich heute Probleme, wenn ich viel rede.

Aufgezeichnet von Katharina Morello

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