10. August 2016 Tim Zulauf

Planetarisierung! Lernen aus dem afrikanischen Archiv

Ausgehend von Südafrika spricht der Politikwissenschaftler Achille Mbembe über Zusammenhänge von Rassismus, Kapitalismus und räumlicher Segregation. Vor allem aber beschäftigt die Frage: Wie weiter? Was ist das Potential, mit dem der afrikanische Kontinent in eine neue Zukunft aufbricht?

Tim Zulauf: Sehen Sie in Südafrika neue Rassismen? Etwa weil die nach der Apartheid installierte, streng neoliberale Wirtschaftsordnung selber gesellschaftliche Segmentierungen vertieft?

Achille Mbembe: Ja, ganz bestimmt. Wir beobachten eine Beschleunigung solcher Trennmechanismen. Aber wir müssen auf ein Paradox der neoliberalen Produktion von Raum achtgeben. Wir sehen einen doppelten Prozess von De-Segregation und Re-Segregation. Es sind zwei Dynamiken gleichzeitig: Die Dynamik der De-Segregation betrifft vor allem die neue schwarze Mittelklasse. Sie wohnt in Suburbs, in bestimmten gated communities. Die Forschung zeigt – vor allem in Johannesburg, wo dieser Trend eingesetzt hat –, dass die Zahl der Nicht-Weissen, die in gated communities umziehen, in den letzten zehn Jahren aussergewöhnlich gestiegen ist. In Johannesburg vollzieht sich also eine riesige Bevölkerungsbewegung vom East-Rand zum West-Rand, wo Siedlungsplaner in hunderte Hektaren Land investieren und ein Lebensmodell mit einem Minimum an Sicherheit und einer besseren Balance von Individualismus und Gemeinschaftsleben anbieten. Dieser Lebensstil unterscheidet sich von dem, was die Leute aus ihren unterschiedlichen schwarzen, indischen oder farbigen Townships kennen. Dieses Modell wirkt anziehend, und in solchen gated communities findest du die erhoffte südafrikanische «Rainbow-Nation» in Aktion. Aber zur gleichen Zeit findet ein Prozess der Re-Segregation und der Re-Territorialisierung von Armut statt. Vor allem über die vielen «informell» genannten Siedlungen, die in der Stadt um Raum ansuchen. Diese verschränkten Dynamiken von De-Segregation und Re-Segregation werden wir genauer untersuchen müssen.

TZ: Aufgrund Ihrer Thesen könnte man polemisch fragen: Wenn Sklaverei zur Entstehung des Kapitalismus nötig war, kann Kapitalismus dann jemals von Rassismus heilen? Ergibt das nicht einen Kurzschluss?

AM: Das ergibt einen Kurzschluss, ja, bezüglich der Verortung von Rasse im Kapitalismus. Es sei denn, wir verstehen Rassifizierung als etwas, das dem Kapitalismus eigen ist. Und wir verstehen unter Rassifizierung nicht einfach nur die Verwandlung von Menschen in Schwarze. Denn die kapitalistische Logik strebt danach, alles und alle in Objekte zu verwandeln. Ich denke, das ist der grundlegende kapitalistische Impuls: Menschen, natürliche Ressourcen, mineralische Ressourcen, Ressourcen der Biosphäre, wenn möglich die Luft, die wir atmen… in etwas zu verwandeln, das verkauft und gekauft werden kann. Die zivilisatorische Logik – um den alten Begriff «Zivilisation» wieder einmal zu benutzen – bestand darin, eine ganze Reihe von grundlegenden Trennungen einzurichten: Natur und Kultur, das menschliche Wesen im Unterschied zum Objekt… Aber wie wir sehen, bröckeln diese trennenden Wände, die die Menschen davor schützen, Instrumente zuhanden anderer Instrumente zu werden. Und das schafft eine Klasse von Menschen, denen alles fehlt, und die selber immer überflüssiger werden. In der kapitalistischen Logik zählen sie einfach nicht. Und wer nicht zählt, wird zur loszuwerdenden Last. Hier setzt das Wiederaufleben von Ideologien und Praktiken ein, die aufräumen und Unerwünschtes ausradieren wollen. Wenn wir also nicht jetzt gegen den Kapitalismus vorgehen, werden immer mehr solcher Impulse der Reinigung freigesetzt: Ethnische Säuberungen, Genozide, Massaker. Wir sehen deren Elemente in allen Kriegen, die weltweit geführt werden. Ob durch primitive Techniken der Enthauptung oder fortgeschrittene mit Drohnen-Bombardierungen oder anderen Formen von Nano-Technologie.

Das planetarische Zeitalter und das Archiv Afrikas

TZ: Sie haben herausgearbeitet, wie Erzählungen über «den Anderen», «den Schwarzen» die europäische Identität herzustellen halfen. In den neunziger Jahren gab es neue Formen von black consciousness, wie etwa das Detroiter Techno-Duo Drexciya. Nach dessen Mythos stammten Drexciyans, mythische Unterwasserwesen, von Sklav*innen ab, die beim atlantischen Transport über Bord geworfen worden waren. Hier entsteht das Bild einer neuen transatlantischen Spezies, das die Geschichte der Sklaverei unterwandert. In der europäischen Kultur-Linken hingegen herrscht das Modell «Radikale Demokratie» vor, geprägt von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Demnach verschiebt eine «radikale» Demokratie ihre Identität stets, aber immer im nationalen Rahmen und in Abgrenzung von einem feindlichen Aussen, also durch ein konstantes «Othering». Wenn Sie über universelle Politiken sprechen, scheinen Sie auch transnationale Narrative mitzudenken …

AM: Definitiv!

TZ: Und wo sehen Sie hierzu Potential in der black history?

AM: Nun, da gibt es sehr viel! Einmal worauf Sie sich beziehen: Die ganze afrofuturistische Bewegung, die Idee von Mobilität, die Vorstellung einer ausserirdischen Existenz, die nicht vom Nationalstaat, aber auch nicht von diesem Planeten eingegrenzt ist. Es gibt eine Vielzahl von imaginären und kulturellen Ressourcen, die wir fruchtbar machen können: Science-Fiction, Techno-Musik, Poesie… Aber da ist auch der objektive Umstand der Endlichkeit unseres Planeten. Der Umstand, dass wir in ein Zeitalter eingetreten sind, in dem wir erkennen müssen, dass die Menschheitsgeschichte nur ein kleiner Teil der Erdgeschichte ist, dass die menschliche Geschichte verzahnt ist mit derjenigen unzähliger anderer Spezies, und dass die menschliche Spezies nur eine unter vielen anderen ist.
Wir wissen: Sollten die gegenwärtigen Trends anhalten, wird das zur Auslöschung der Menschheit als solcher und zu der unseres Planeten führen. Wir treten also in eine Phase planetarischen Bewusstseins, die uns objektiv aufzeigt, wie begrenzt ein nationalstaatliches Bewusstsein ist. Und wie sehr die Zukunft, ganz sicher die Zukunft des Kontinents Afrika, von unserer Fähigkeit zu ökologischen Aushandlungen abhängt. Und davon, ob es uns gelingt, diesen riesigen Kontinent der Zirkulation zu öffnen – was die Abschaffung aller vom Kolonialismus ererbten Grenzen bedeutet. Was weiter die Öffnung des Kontinents für eine neue Phase der Immigration bedeutet. So wird dieses neue Zeitalter der Planetarisierung und Zirkulation objektiv die Vorstellung einer anderen Form von «Welthaltigkeit» [Worldliness] erlauben. Eine, die den alten, kolonialzeitlichen Konzeptionen den Rücken kehrt – ganz bestimmt der Sklaverei. Also kann uns das «schwarze» Archiv, das Archiv Afrikas, helfen, all das fruchtbar zu machen, was wir brauchen, um uns eine andere zukünftige Welt vorzustellen.

Afrika re-zentrieren

TZ: Länder wie China und Russland stecken in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die sie mit neuen Nationalismen zu kontrollieren versuchen. Was passiert mit der Öffnung, von der Sie sprechen, wenn China in Afrika investiert …

AM: … um den Kontinent auszubeuten, ja.

TZ: Ist das eine neokoloniale Massnahme? Stellt die Öffnung Afrikas somit nicht auch eine Gefahr dar?

AM: Oh, sicherlich. Es muss eine gut ausgearbeitete, ausgehandelte Öffnung sein, keine naive! Das Gesamtziel ist, Afrika zu seinem eigenen Zentrum zu machen, es zu re-zentrieren. Diese Re-zentrierung ist gut für alle – für Amerika, Europa, Lateinamerika, China, Indien und den Rest. Ein Kontinent im Zerfall dagegen gefährdet jede*n. Um sich zu re-zentrieren, muss der Kontinent aber paradoxerweise zum weitläufigen Raum innerer Zirkulationen werden. Und das erfordert die Aufhebung, den Rückbau und das Ausserkraftsetzen der kolonialen Grenzziehungen. Denn der Erhalt dieser Grenzen ist extrem hinderlich.
Kein*e Afrikaner*in ist heute in irgendeinem Teil der Welt benötigt oder erwünscht. Niemand will diese Leute, die das Mittelmeer zu überqueren versuchen und an den Küsten von Spanien, Italien oder Griechenland stranden. Und es gibt keinen Grund für sie, dorthin zu gehen. Denn der Kontinent ist gross genug, um jede*n einzelne*n Afrikaner*in unterzubringen, und mehr als Afrikaner*innen selbst. Er ist voll mit allem Nötigen, so dass niemand wegzulaufen braucht. Wie gelangen wir also zurück zu diesen Grundlagen? Indem wir die internen Grenzen aufheben. Indem wir den Leuten ermöglichen, frei zu zirkulieren, zu handeln wo immer sie können, ihre Fähigkeiten und ihre Intelligenz zu teilen, ihr Kapital, all das. Das erfordert natürlich bedeutende Investitionen in riesige Infrastrukturen wie Strassen, Autobahnen, Schienennetze, Flughäfen, digitale Netzwerke und so weiter. Aber ich denke das aus der planetarischen Perspektive aller Nationen, aller Staaten und Regionen. Es wird gut sein für Afrika, die Grenzen zu China, Brasilien, der Türkei, Indien… zu öffnen und zum Ort der Amalgamation zu werden, zur Gemeinschaft der Nationen. Das hat schon immer zur Entstehung grosser Zivilisationen geführt.

TZ: Die Re-zentrierung Afrikas verlangt also eine klare Vision, welche die Verhandlungen der Öffnung leitet. Wäre das eine neue Form von Patriotismus? Sicherlich das falsche Wort, da wir über einen Kontinent reden, aber …

AM: Afri-Politanismus …

TZ: Ok!

AM: Afri-Politanismus hat nichts mit Nationalismus zu tun, noch weniger mit Patriotismus. Es geht dabei darum, das zu ernten, was unsere Stärke ausgemacht hat. In der langen Geschichte der afrikanischen Völker und Gesellschaften ist der Kolonialismus ja nicht mehr als eine Fussnote. Wenn wir diese lange Geschichte anschauen: Was machte unseren Kontinent bewohnbar? Der Umstand, dass Menschen sich bewegen können. Unsere Geschichten, die Geschichten unterschiedlichster ethnischer Gruppen, sind allesamt Geschichten von Migration. Die grundlegenden Mythen der meisten afrikanischen Gesellschaften handeln von Menschen, die irgendwo geboren sind und irgendwo anders hinwandern. Und dieser Vorgang setzt eine Amalgamation und Kooperation von Waren, Gütern und Techniken frei – nach dem Prinzip: Reichtum bedeutet Reichtum an Beziehungen unter Menschen und Dingen [wealth-in-people]. Diese Kombination von Dingen und Menschen, die kollektiv agieren, stellt etwas Bewohnbares her. Und das bedeutet ökologische Aushandlungen, Verhandlungen mit der Umwelt. Erst das erlaubt es den Menschen, Teil all dieser Netzwerke von Relationen zu sein, und nicht der/die Beherrschende von allem.
Herrschaft ist ein westliches Konzept: Die Natur unterliegt, alles ist zu unseren Diensten. Afrikanische Tradition handelt von Relationalität. Daher verlangt sie Zirkulation und Offenheit für Vielheiten: Es gibt nicht eine Form von Hochzeit, sondern viele. Dasselbe gilt für Formen der Sexualität. In Sachen Tanz und Musik: Offenheit zur Vielheit. Bewegung und Relationalität waren schon immer die treibenden Kräfte, mit denen afrikanische Gesellschaften ihren Gesellschaftsraum bewohnbar gemacht haben – zumindest bis zum Kolonialismus. Ich spreche nicht von Nationalismus oder Patriotismus. Diese Konzepte haben uns in den Sumpf geführt, in dem wir heute stecken. Es geht darum, andere Vokabulare zu entwickeln, um den Fluch der Unausweichlichkeit zu brechen, der Teil der neoliberalen Erzählung ist. Es geht darum, wie wir andere Formen von Imagination anregen, die uns zeigen: Es ist nicht unausweichlich, wo wir uns befinden.


Achille Mbembe ist Professor am Wits Institute for Social and Economic Research der Universität Johannesburg. Geboren in Kamerun 1957, studierte er Geschichte an der Sorbonne und Politikwissenschaften am Institut d’Etudes Politiques in Paris. Nach Professuren in den USA kehrte er 1996 nach Afrika zurück – zuerst nach Dakar im Senegal, dann nach Südafrika, das nach den Apartheid-Jahren seit 1995 demokratisch regiert ist. Im deutschsprachigen Raum ist Mbembe 2013 mit dem Buch «Kritik der schwarzen Vernunft» bekannt geworden. Sein Grundlagenwerk De la postcolonie. Essai sur l’imagination politique dans l’Afrique contemporaine, 2000, gilt als zukunftsweisender Beitrag zu den Postcolonial Studies.

Interview in Johannesburg, August 2015

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