1. Mai 2015 Raphael und Harika Jakob

«Rassismus ist nicht nur eine Gefahr für die direkt Betroffenen, sondern das grösste Hindernis für eine linke Bewegung.»

Interview mit dem Philosophen Gáspár Miklós Tamás

Was denken Sie über die europäische Migrationspolitik und die Frontex?
Ich hasse all das natürlich. Die Frontex ist eine europäische Institution und die ganze Flüchtlingspolitik ist eine der reaktionärsten Seiten der Europäischen Union. Man sollte dagegen in allen europäischen Ländern oder zumindest in den Mitgliedländern der EU grenzüberschreitend mobilisieren. Ich weiss, wie schwierig das ist, aber anders geht es nicht, da isolierte Proteste gegen eine politische Wirklichkeit auf europäischer Ebene nicht sehr wirksam sind. Das hat jetzt nichts mit meinem Internationalismus oder meinem politischen Geschmack zu tun. Es wäre schlicht eine Notwendigkeit. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Grundlagen für eine solche Mobilisierung – wie etwa die alte Gewerkschaftsbewegung oder die sozialistische Partei – kaum noch existieren. Auch wenn einige von deren Mitglieder demokratisch gesinnt sind und diesen Themen wohlwollend gegenüber stehen, sind sie als wirkliche Grundlage für eine rosarote Mobilisierung gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit leider nicht mehr geeignet.

Auch die Öffentlichkeit ist sehr schlecht informiert. Die Medien sind in dieser Hinsicht wirklich verächtlich, auch relativ progressive Zeitungen, die beispielsweise in der Frauenoder Gayfrage egalitärer sind, sind bei Rassismus sehr vorsichtig und zurückhaltend. Natürlich sind die Medien nicht für die grossen Brutalitäten verantwortlich, aber sie schaffen auch nicht wirklich eine Stimmung zum Vorteil der Einwanderer_innen. Ich glaube, dass man diese Institutionen einfach als hoffnungslos aufgeben sollte. Das heisst zwar nicht, dass Solidarität nicht willkommen wäre, aber im Moment gibt es einfach keine Hilfe. Man sollte bei den internationalen Organisationen in Europa gegen die Flüchtlingsund Einwanderungspolitik mobilisieren. Die wenigen Aktivist_innen sind immer müder und müder. Die erste Generation der Aktivist_ innen ist ausgebrannt. Es sind wenige, sie arbeiten zu viel und können ihr normales Leben nicht mehr bestreiten, das sind todmüde Leute. Man sollte eine Arbeitsteilung organisieren, damit die Arbeit weitergeht, ohne die Teilnehmer_innen zu zerstören. Ich habe in diesen kleinen Bewegungen gelernt, dass es eine Grenze des Engagements gibt. Menschliche Energien sind endlich.


Gáspár Miklós Tamás, Philosophieprofessor

Ungarischer Philosoph und Essayist, geboren in Cluj/Klausenburg, Transsilvanien, Rumänien. Tamás kam dort auf die schwarze Liste und floh 1978 nach Ungarn, unterrichtete an der Universität von Budapest, kam dort wieder auf die schwarze Liste und erhielt ein Publikationsverbot. Er war Mitglied der geheimen demokratischen Opposition (1981 –1989), wurde nach dem Mauerfall ins erste Parlament gewählt, stellte sich jedoch 1994 nicht wieder zur Wahl. Er unterichtete oder forschte an verschiedenen Universitäten wie Columbia, Oxford, New School, Chicago, Yale, Georgetown, Wien, Paris, Berlin. Im Moment lebt er wieder in Budapest, arbeitslos, vermutlich aus politischen Gründen. Seine Arbeiten in politischer Philosophie und politischer Theorie wurden in 14 Sprachen übersetzt. Er schreibt politische Pamphlete und ist es gewohnt, an Demonstrationen zu sprechen.


Wir waren in Lampedusa am Treffen für die Charta von Lampedusa1, an dem Organisationen aus verschiedenen Ländern teilnahmen. Es gab Sprachprobleme, und auch das Vertrauen in die Organisationen war nicht sofort da, man musste sich zuerst kennenlernen. Es gibt grosse Unterschiede zwischen den Ländern. Das sind Hindernisse für eine internationale Organisierung.
Ich erhalte einige kurdische Newsletter aus Berlin, doch diese sind begrenzt auf Kurden in Deutschland und Österreich. Also, wie soll man informiert sein? Das sind die Grenzen, wie Sie sagen. Man soll sehen, wie es zum Beispiel Amnesty International (AI) oder andere gemacht haben. Als Organisation ist AI bemerkenswert und auch beneidenswert. Eine solche kleine Internationale sollte auch für das Flüchtlingsthema existieren, mit einem wirklichen Lobbying in Brüssel und Strasbourg – weil sich die Lage dauernd verschlechtert. Eine internationale Dachorganisation ist nötig, um einen wirklich starken Gesprächspartner zu haben in unserem Kampf mit den Regierungen und mit der EU. Auch wenn man mit parallelen Aktionen beginnt, sollte man sich nicht in Parallelismen verlieren. Dies zersplittert die Kräfte, ist nicht ökonomisch, sondern viel zu teuer. Es bräuchte auch eine anerkannte Zeitschrift in Englisch, Französisch und Deutsch, die alle lesen und wo die ganzen Berichte, das ganze Rechtsmaterial und die Aktionen diskutiert werden.

Wie schätzen Sie die Reaktion der Öffentlichkeit auf eine internationale Flüchtlingsbewegung ein?
Es wird einen Clash mit der Meinung der Mehrheit geben, denn es ist kein populäres Thema. Natürlich, die Leute haben Angst vor der nicht beendeten Krise, und es gibt vernünftig erscheinende Argumente gegen die Rechte der Migrant_innen, wie z.B. die Arbeitslosigkeit. Es gibt keine präzise Grenze zwischen den etablierten und nationalen Volksparteien und AntiImmigrations-Bewegungen, weil diese die Stimmung der Mehrheit widerspiegeln und weil das Werkzeug der Macht die Wahlen sind. Unter Berufung auf die Wählerstimmung kann die eigene rassistische Meinung so vertreten werden, als würde sie nur der öffentlichen Meinung folgen. Aufgeklärte Politiker und Bürokraten sind natürlich dagegen, aber es heisst dann: Diese Leute und die öffentliche Meinung soll man beachten, weil das spontane Volkstimmungen und Bewegungen sind, und da wir Demokraten sind, sollten wir die Meinung des Volkes beachten.

Ich sage: Diese Verhältnisse soll man sprengen, weil es eine Lüge ist. Doch es ist sehr nützlich fürs Kapital, alle emanzipatorischen, anti-systemischen Kräfte und Bewegungen zu stoppen. Eines der grössten Hindernisse für die Konstruktion einer neuen, sagen wir: Arbeiterbewegung, ist präzise der Rassismus. Das ist nichts Neues. Früher war es Nationalismus, heute ist es Ethnizismus. Hier gibt es zwar einen Unterschied, doch im Grunde hat sich nichts geändert, nur die Kräfteverhältnisse sind anders. Wir sind schwächer als früher. Ich glaube, die Lage ist fürchterlich, doch man soll so klar wie möglich zeigen, zumindest in der linken Meinung, dass Rassismus nicht nur eine Gefahr für die direkt Betroffenen ist, sondern das grösste Hindernis für eine linke Bewegung darstellt. Der Rassismus ist nicht nur für die Flüchtlinge, ihre Freunde und überzeugte Antirassisten eine Gefahr, sondern auch für die Mehrheit. Man kann keinen emanzipatorischen Kampf führen mit unklaren Devisen, die das allgemeine Interesse betreffen. Wenn man das Proletariat, die Armen und Angestellten in Weisse und Farbige teilt, dann ist das das Ende einer emanzipatorischen Bewegung.

Mitglieder der französischen Partei Parti des Indigènes de la République2 sagten einmal: «Der weisse Antirassismus wird uns nicht retten.» Was denken sie darüber?
Natürlich, das ist ein wahres Prinzip der Autonomie. Marx sagte damals, die Befreiung der Arbeiterklasse könne nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein. Das ist ein Prinzip der Autonomie in einer linken Bewegung und betrifft auch die Bewegung der Migrant_innen. Die Betroffenen sollen selbst diesen Kampf leiten, bilden und gestalten. Man braucht dafür keinen weissen Onkel, keine weisse Tante. Aber es gibt auch noch ein anderes Prinzip, nämlich das der Solidarität. Und das soll gegenseitig sein. Auch die Einwanderer_innen sollen sehen, dass das Problem des Rassismus und der Xenophobie ein Problem für die Mehrheit ist. Wenn wir also gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit kämpfen, dann kämpfen wir für uns, nicht nur für sie. Wir kämpfen im Interesse der gesamten Gesellschaft.


Wie kann man für Gleichheit und Emanzipation kämpfen, wenn man die Farbigen und andere Einwanderer_innen ausgrenzt?


Das ist unmöglich. Wir weissen Onkel sollen die Einwanderer_innen nicht führen, aber sie sollen wissen, dass es eine Angelegenheit der ganzen Gesellschaft ist und nicht nur eine sektionale Sache. Migrant_innen wollen nicht von anderen patronisiert und geleitet werden. Aber wenn sie eine führende Rolle spielen wollen, soll das ohne anti-weisse Attitüde geschehen. Zwar sind die unterdrückten Minderheiten nicht in der Lage, einen anti-weissen Rassismus zu entwickeln, aber man soll internationalistisch sein; nicht aus moralischen, sondern aus politischen Gründen. Ich glaube, das ist das Nützlichste.

Haben wir Migrant_innen und Flüchtlinge mit all unseren Problemen überhaupt das Potential, etwas Politisches zu bauen?
Das wäre wünschenswert. Ob es wirklich möglich ist, ist, wie man damals sagte, eine Kampffrage. Das kann man nicht prinzipiell entscheiden, das wird man sehen. Im Moment scheint es nicht wirklich möglich. Darum sollte man in der Logik der demokratischen Staatsbürgerschaft, wie es im internationalen Recht und im Verfassungssystem der europäischen Länder prinzipiell anerkannt ist, für eine citoyenneté kämpfen. Es wäre auch nicht ganz unmöglich, dafür verbündete bürgerliche Demokraten und Liberale zu finden.


Man soll die Bewohner_ innen eines Landes automatisch als Staatsbürger_innen anerkennen.


Wenn jemand irgendwo biologisch, politisch, intellektuell lebt und arbeitet, soll das ein genügender Grund für eine politische Anerkennung sein. Und die Anerkennung in der bürgerlichen Gesellschaft ist die Staatsbürgerschaft. Also volle Rechte für alle Einwohner_innen! Warum sollen die Einwohner_innen eines Gebiets aufgeteilt sein in Leute mit Vollrecht und Leute ohne Recht? Das nennt man Feudalismus und das ist auch nicht bürgerlich und eigentlich ganz und gar unmöglich im heutigen Verfassungssystem der europäischen Länder. Wenn Staatsbürgerschaft zum Privileg wird, hat sie keinen Sinn mehr. In der französischen Revolution hat man dafür gekämpft, dass alle Staatsbürger gleich sind. Wenn es zwei Klassen von Leuten gibt, Staatsbürger_innen und Nicht-Bürger_innen, dann ist es keine bürgerliche Republik mehr, sondern eben Feudalismus. Das ist eine Minimumforderung, für die man auch mit bürgerlichen Demokraten zusammenarbeiten könnte, wenn sie noch ein Gewissen haben. Rechtliche Ungleichheit ist nicht vereinbar mit dem UNO-Grunddokument. Die universelle Erklärung der Menschenrechte schliesst sie aus. Man sollte den Kampf daher auch auf rechtlicher, bürgerrechtlicher und Menschenrechtsebene fortsetzen. Es ist zwar nicht mein Weg, gemeinsam mit den bürgerlichen Demokraten und Liberalen zu gehen, aber es gibt einige Voraussetzungen, die man teilt, so zum Beispiel die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen.


200 Jahre nach der französischen Revolution sollte es keine Tapferkeit sein zu sagen, alle Menschen sind gleich.


Phantastisch. Diese Sachen von Jus Soli und Jus Sanguinis sind nicht vereinbar mit den grundsätzlichen Überzeugungen der Stifter dieses Staatssystems, in dem wir leben. Darüber sollen die weissen Mehrheiten ein bisschen nachdenken: Wenn in einem sogenannt demokratischen Staat Rechtsverschiedenheiten aufgrund des rechtlichen Status existieren, also wie Adlige und keine Adlige, dann ist das keine bürgerliche Demokratie mehr.

Haben Sie gewusst, dass in der Schweiz noch einige Bürgergemeinden per Bürgerabstimmung entscheiden, ob jemand die Staatsbürgerschaft erhält?
Ich glaube, ich habe davon gehört, es aber wieder vergessen. Die Bürgergemeinden können über den Rechtsstatus entscheiden? Das ist logisch ganz schief. Weil die Gemeinde definiert ist als die Versammlung aller Bürger_innen. Wer sind die Bürger_innen? Natürlich die, die dort wohnen! Und darin eine Differenzierung einzuführen ist gegen das Grundprinzip. Wenn sie schon dort wohnen, leben und arbeiten, haben sie damit im Geiste des aufgeklärten Konstitutionalismus das Recht erworben, gleichberechtigte Teilnehmer_innen im politischen Leben dieser Gemeinde zu sein. Was ist das Prinzip, das sie ausschliesst? Es ist das rassische Prinzip. Dieses ist vom Verfassungsrecht nicht anerkannt.

Dieses Interview stellt eine stark gekürzte Version dar. Das ganze Interview kann hier als PDF heruntergeladen werden.

1) https://bildung-fuer-alle.ch/eintrag/politisches-programm-die-charta-von-lampedusa 

2) http://www.indigenes-republique.fr/ 

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