8. Juni 2024 Bahtkyar, Käthi und Zaher
Bahtkyar habe ich vor ein paar Monaten an der ASZ kennengelernt. Mir ist aufgefallen, dass er kein Türkisch spricht, obwohl er auf seiner Flucht, wie viele andere Personen aus Afghanistan, mehrere Monate in der Türkei verbracht hat. Im Osten der Türkei – an der Grenze zu Armenien und Iran – war Bahtkyar ein halbes Jahr lang inhaftiert, wie er sagt. An einem Sonntagnachmittag in Zürich – über 3’000 Kilometer von Ağrı und Iğdır entfernt – erzählt er von dieser Zeit. Zaher, ein langjähriger ASZ-Freund, übersetzt.
Bahtkyar, du hast mir erzählt, dass du sechs Monate in der Türkei im Gefängnis warst. Wie ist das passiert?
Wir kamen vom Iran her. In der Türkei wurden wir von der Polizei erwischt. Ich habe die Beamten gefragt, was sie mit uns machen würden. Sie sagten, sie würden uns ins Flüchtlingslager bringen.
Warst du zusammen mit anderen Personen oder allein?
Ich war in einer Gruppe mit 47 Personen unterwegs. Zuerst brachte man uns auf einen Bauernhof. Es kamen noch mehr Flüchtende dazu und dann wurden wir alle abtransportiert. Wir waren zuerst einen Monat in Ağrı, wo wir zwar dreimal pro Tag Essen bekamen, jedoch nur wenig. Später wurden wir nach Iğdır gebracht. In diesem Camp waren Personen aus verschiedenen Ländern und Kontinenten, auch aus Afrika.
Wie viele Menschen waren im ersten Camp in Ağrı?
Etwa 2’000. Ich wohnte in einem kleinen Container, der für zwei bis vier Personen ausgelegt war, aber sie steckten acht da rein. Nichts funktionierte. Wenn es regnete, lief Wasser rein. Rundherum war ein Zaun, und es gab Videoüberwachung. Und für die Hygiene gab es nichts: keine Seife, keine Dusche, keine Tücher. Unsere Kleidung konnten wir nicht wechseln.
Du hast gesagt, ihr hättet dreimal am Tag Essen gekriegt. Was gab es?
Zum Essen gab es Getreidebrei und zum Trinken nur Wasser, das nicht mal sauber war. Wenn wir uns beschwerten, drohten uns die Leute. Es gab drei oder vier Mitarbeitende des Lagers, die uns sogar täglich bedrohten. Sie sagten immer wieder, sie würden uns an die iranische Grenze bringen. Dort würde uns die Polizei festnehmen und wir müssten unsere Organe verkaufen, um weitergehen zu können.
Hatten diese Leute Uniformen an?
Ja, es waren «Jandarma» (Paramilitärische Gendarmerie der Türkei, Anm. d. Red.). Sie kamen oft mit der türkischen Polizei.
Was ich nicht ganz verstehe: Es hatte 2’000 Geflüchtete im Camp und es gab nur drei oder vier Leute der «Jandarma»?
Die drei oder vier Hauptpersonen hatten mehrere Mitarbeitende. Zu uns kamen jedoch immer die gleichen drei Leute. Manchmal schauten auch afghanische Botschaftsangestellte rein. Wobei nicht alle Geflüchteten den afghanischen Botschaftsangestellten gezeigt wurden, nur etwa 20 oder 30.
Was haben die Botschaftsleute da gemacht?
Sie kamen nicht, um zu schauen, wie es uns geht. Sie kamen wegen der Abschiebung und überprüften, ob wir Afghan: innen waren.
Und du wurdest nicht zurückgeschickt?
Sie konnten mich nicht überzeugen. Ich dachte: Wenn ich nach Afghanistan zurückkehren würde, wäre mein Leben bedroht. Vielleicht ist es besser, hier getötet zu werden als in Afghanistan.
Sind die anderen freiwillig wieder nach Afghanistan zurückgekehrt?
Die türkische Polizei hat Spiele gespielt. Sie haben Häftlingen versprochen, sie würden nicht deportiert werden, wenn sie ihre Fingerabdrücke abgeben würden. Oder wenn sie andere Häftlinge davon überzeugen, dass es besser wäre, sich nach Afghanistan abschieben zu lassen. Einige naive Häftlinge haben sich so beeinflussen lassen. Doch auch die Leute, die mit der türkischen Polizei zusammengearbeitet hatten, wurden am Ende abgeschoben.
Wurdet ihr geschlagen?
Man wurde geschlagen, wenn man reklamierte oder protestierte. Die Mitarbeitenden nahmen diese Personen mit, verprügelten sie und brachten sie danach wieder zurück. Als wir anfangs an der Grenze erwischt wurden, schlugen uns die Beamten auch. Einigen Leuten wurden die Hände oder Arme gebrochen.
Gab es medizinische Behandlung?
Nicht vor Ort. Nur wenn wir sehr krank wurden, brachten sie uns ins Spital – mit sehr vielen Polizisten und Polizeiautos.
Du hast gesagt, dass es in diesem Camp …
Sie nannten es Camp, für mich war es ein Gefängnis.
Also: Du hast gesagt, dass es in diesem Gefängnis etwa 2’000 Leute gab. Waren darunter auch Frauen und Kinder?
Es waren wenige Frauen und Kinder da, sie wurden genauso behandelt wie wir, aber an einem anderen Ort untergebracht. Als ich in diesem Gefängnis war, kam alle ein bis zwei Wochen die Polizei vorbei. Wir wurden aus unseren Räumen getrieben und die Beamten kontrollierten unsere Schlafplätze mit Polizeihunden. Ausserdem wurden wir überwacht. Egal ob Tag oder Nacht: Wir wurden rausgeholt und gezählt, ohne Vorwarnung.
Wurden euch alle Papiere und Handys abgenommen, als ihr in dieses Lager kamt?
Im Lager wurde uns alles abgenommen, wir behielten nur das, was wir am Körper hatten. Ich glaube, die Polizisten merkten sich die Geflüchteten, die deswegen reklamierten. Denn diese Personen wurden in der Nacht weggebracht und geschlagen. Manchmal kamen die Polizisten in der Nacht und marschierten rum, um uns Angst einzujagen.
War das Lager in der Nähe eines bewohnten Ortes?
Im ersten Lager in Ağrı waren wir in der Nähe eines Dorfes. Als ich dort war, machte ich ein Loch in die Containerwand, durch das ich nach draussen aufs Dorf schauen konnte. Ich wünschte mir immer, dass ich irgendwann dort draussen frei rumlaufen würde. Das zweite Camp war dann ungefähr zehn Kilometer von der Stadt Iğdır entfernt.
Also: Zuerst warst du einen Monat in Ağrı, dann kamst du nach Iğdır. Brachten sie dich allein dorthin oder wieder eine ganze Gruppe?
Ich wurde zusammen mit 170 weiteren Afghan:innen transportiert.
Dieses Camp in Iğdır, war es ähnlich wie das in Ağrı?
Es war noch schlechter als in Ağrı. Rundherum hatte es eine Mauer und darauf noch einen Zaun und Kameras. Das Essen war gleich: schlecht und wenig. Es hatte keine Duschen.
Und diese Kontrollen und Einschüchterungen: Gab es die auch?
Es wurde praktisch gleich gemacht, aber intensiver.
In Iğdır warst du von September bis Januar. Im Winter wird es dort sehr kalt.
In den ersten 25 Tagen hatten wir keine Decken, also suchten wir uns Plastiksäcke, um uns zuzudecken. Danach gab es 40 Decken für 170 Leute.
Musstet ihr auf dem Boden schlafen?
Ja. Keine Decke, kein Teppich, einfach auf dem Boden.
Nach fünf Monaten bist du schliesslich aus dem Camp in Iğdır rausgekommen. Wie ist das passiert?
Wir waren dort bis zum grossen Erdbeben. Die Polizei brachte uns danach sofort nach Istanbul und sagte uns, dass wir verschwinden sollten, dass sie uns hier nicht mehr sehen wollten.
Wieso? Habt ihr das Erdbeben auch gespürt?
Nein, das Erdbeben war in dieser Region nicht spürbar. Ich weiss nicht, wieso, aber sie wollten nach dem Erdbeben, dass einige von uns möglichst schnell verschwinden.
Nach dem Gespräch zeigt uns Bahtkyar auf Google Maps die beiden Orte, wo er inhaftiert war. Auf den Satellitenaufnahmen ist klar erkennbar, wie die Camps aufgebaut sind. Wie bei uns haben sie beschönigende, bürokratische Namen: «Iğdır geri gönderme merkezi» – Iğdır Rückführungszentrum; «Ağrı geri gönderme merkezi» – Ağrı Rückführungszentrum. Zaher merkt nebenbei an: «Ich habe auch mal meinen Fluchtweg auf Google Maps verfolgt, zeichnen kann ich den immer noch.»