29. April 2012 Fabiana Gonzalez

Autonome Schule Zürich - Emanzipation oder Reproduktion?

ASZ-Unterricht an einem temporären Standort zu Zeiten der «Wanderschule» im Winter/Frühling 2010.

Interview mit Felipe Polania: Ein kritischer Blick auf die Arbeit der Autonomen Schule.

Meine ersten Worte auf Deutsch habe ich in der Autonomen Schule Zürich gelernt, zwischen Tränengas und Menschenketten, die der Polizei Widerstand geleistet hatten, während der Räumung der Schule in Oerlikon am 7. Januar 2010. Ich würde heute nicht auf Deutsch schreiben, hätten einige Leute an diesem Morgen nicht entschieden, ein weiteres Gebäude zu besetzen und für autonome Bildungsräume zu kämpfen. Ich hatte das Glück, Deutsch mit einer Pädagogik der Befreiung zu lernen.

Ich habe Deutsch in der Autonomen Schule gelernt, mit vielen Leuten aus der ganzen Welt, indem wir alle zusammen eine Schule bauten. Wir trugen Bänke, Tische und Wandtafeln von einem Raum in den anderen. Zwei Wochen hier, einen Monat dort, die ASZ war in diesem Moment eine Wanderschule. In der Zwischenzeit machten wir Capoeira, Kino, Theater und Atelier. Wir waren fähig, fünf Kurzfilme in fünf Tagen zu machen und uns mit dem Körper auszudrücken, wenn uns die Worte fehlten. Wir waren fähig, an einem Tag eine Schule zu besetzen und am gleichen Tag Kino zu machen. Die Projekte waren für uns wichtiger als die Räume. Unser Deutsch war nie eine limite für die politische Beteiligung. An meinen ersten Tagen in der Gessnerallee lernte ich mit zwei Wörtern einen Satz zu bilden wie z.B. «alle suzammen» oder «Eine Räumung eine Besetzung».

Wir lernten zusammen, in einem kommunikativen Prozess, beim Diskutieren, beim Befragen, beim Kreieren. In diesem Prozess war es wesentlich zu lernen, unser Wort zu sagen, damit niemand für uns entscheiden oder unsere Bedürfnisse interpretieren musste. Für einige Zeit waren wir aktive Subjekte und keine Wissensdepots von Kenntnissen. Die Schule war eine Bewusstseinsbildung in Huberta, als wir als Plenum entschieden, dass wir eine Schule brauchten, und uns fähig wussten, sie im Kollektiv zu konstruieren.

Ich denke, dass die Schule mittlerweile einen anderen Kurs genommen hat. Es gibt eine totale Trennung zwischen der politischen Entscheidungsfällung und jenen, die an der Schule teilnehmen. Ich habe nicht an der aktuellen Hegemoniekonstruktion teilgenommen, weil ich dadurch geholfen hätte, ein Projekt zu legitimieren, dass sich entfernt hat vom anfänglichen Projekt. Es geht darum, irgendwie mit der aktuellen Dynamik zu brechen. Wir müssen wieder den Weg einer befreienden Pädagogik gehen, in der Praxis und nicht nur in Worten, wenn wir nicht weiter wertvolle compañer@s verlieren und weiter auf dem Weg einer bankmässigen, adaptativen und reproduktiven Bildung gehen wollen.

Einer von denen, die dafür kämpften, eine Autonome Schule als emanzipatorischen Raum zu kreieren, war Felipe Polania. Das folgende Interview dreht sich um die Gründe, eine solche Schule zu gründen, und auch um die spätere Distanzierung davon:

Fabiana González: Wie ist die Idee einer Autonomen Schule entstanden?
Felipe Polanía: Die Autonome Schule Zürich war ursprünglich ein Projekt, das inmitten der Konfrontation entstand: einerseits die Deutschkurse, die eine Kontinuität nach der fast dreiwöchigen Besetzung der Predigerkirche im Dezember 2008 darstellten, und andererseits ein Projekt der Konfrontation der traditionellen bürgerlichen Bildung, das in der Besetzer_innenszene durch eine Gruppe angedacht wurde, welche im Jahre 2008 die Büros in der Manessestrasse und später den Schulpavillon an der Ringstrasse in Oerlikon besetzte. In diesem Sinn entstand das Projekt als Teil eines Prozesses der Organisation und Mobilisierung.

FG: Denkst du, dass die ASZ derzeit ein emanzipatorisches Projekt ist?
FP: Mit der Zeit hat sich die ASZ in ein assistenzialistisches Projekt, in ein Projekt der «Hilfe» gegenüber benachteiligten und marginalisierten Bereichen der Bevölkerung entwickelt, und dies allein hat nichts Emanzipatorisches. Im Gegensatz zur Anfangszeit konzentriert sich die aktuelle Sorge auf die «Lösung» für das Problem der sogenannten «Integration» der Asylsuchenden. Das heisst: Die ASZ möchte ein Defizit der offiziellen Asyl- und Migrationspolitik kompensieren, im Sinne der «Garantierung des grundlegenden Rechtes auf Bildung». Diese Entwicklung, die charakteristisch ist für ein reformistisches und assistenzialistisches Projekt, ist weit weg vom anfänglichen Zweck, das Konzept der Bildung zu konfrontieren. Es ging nicht darum, im dominanten institutionellen Rahmen für das Recht auf Bildung zu kämpfen, sondern ein neues Konzept der Bildung zu konstruieren, dass sich fundamental als ein emanzipatorisches Konzept versteht, das heisst: Es ging darum, einen Prozess anzustossen, der auf die Zerstörung der Mechanismen und Strukturen abzielt, die uns daran hindern, uns als Menschen zu realisieren, aber auch als Kollektiv.

In diesem Sinn sehe ich in der aktuellen ASZ kein Interesse, abgesehen vom guten Willen der Bürger_innen, die sich engagieren, die Situation von anderen Menschen in dieser Gesellschaft zu verbessern. Dieses Engagement reflektiert jedoch nicht anhand eines Prozesses der Dekonstruktion die Mechanismen, in welchen gesellschaftliche Rechte und Zugänge gewährt oder verweigert werden, wie zum Beispiel die Konstruktion von Nationalitäten, die Naturalisierung und Kulturalisierung von Dominationsprozessen in Form der Anerkennung der Nationalstaaten.

Die Wiederholung des Diskures der Armen des Südens, die keine andere Option haben, als der Armut und dem Krieg zu entfliehen, und der Guten des Nordens, die bereit sind, ihren Reichtum mit ihrem/ihrer Nachbar_in zu teilen, ist nichts anderes, als die kolonialistische Logik zu reproduzieren, in der die Ausbeutung und die gewalttätige Vorherrschaft der westlichen, weissen und patriarchalen Gesellschaft über den Rest der Welt als Naturphänomen erläutert wird oder sogar als Phänomen der Vorbestimmung, von der Calvin sprach: ein Phänomen, gegen das sich nichts machen lässt, weil es so sein musste; die westliche Gesellschaft war prädestiniert, dem Rest der Welt Ordnung und Fortschritt zu bringen. Es geht nicht darum, dass die Armen des Südens von ihrem Elend geflüchtet sind, sondern darum, dass die Kolonisierung, die den Wohlstand in Europa möglich gemacht hat, unweigerlich Armut und Migrationswellen in den kolonialisierten und ausgebeuteten Teilen des Südens erzeugt.

Die Konstruktion der Flüchtlinge als hilfsbedürftige Subjekte, die nichts erreichen können ohne die Unterstützung durch einen/ eine Schweizer Bürger_in, und andererseits die Konstruktion dieses/dieser Bürger_in als Person, die etwas tun, Gebrauch von ihren politischen Rechten machen muss, um diese Ungerechtigkeit zu stoppen (aber klar: in dem selben unterdrückenden, institutionellen Rahmen), sind in diesem Zusammenhang nichts mehr als die Reproduktion der Macht- und Dominanzbeziehungen.

FG: Was ist der Unterschied zwischen einer Pädagogik der Befreiung und einer Pädagogik der Unterdrückung?
Ein grundlegender Unterschied zwischen einer Pädagogik der Unterdrückung und einer Pädagogik der Befreiung ist dieser: Die erste reproduziert dominierende Strukturen wie Nationalität, Geschlechterrollen, soziale Klasse oder Kultur (zum Beispiel in der Naturalisierung von Ungerechtigkeiten und Beherrschung). Das heisst: Die erste reproduziert das Konstrukt des/der «Schweizer_in» mit Rechten, mit dem besseren Verständnis der Welt und dem guten Herzen, sich in der Freizeit für andere Menschen einzusetzen, im Gegensatz zum «Flüchtling», dem/der «Ausländer_in», der/die Hilfe braucht und sich integrieren und die Sprache von hier lernen muss, um Beziehungen knüpfen zu können. Die zweite, die Pädagogik der Befreiung, versucht die Mechanismen der Domination zu dekonstruieren, die Machtbeziehungen zu hinterfragen, die erworbene Identität zu problematisieren und strebt grundsätzlich die Bildung autonomer sozialer Netzwerke, die Selbstbestimmung im Gegensatz zu den Vorschriften der Macht an.

FG: Ist in der Schweiz ein pädagogisches Modell der Befreiung möglich?

FP: Im Kontext der Schweiz sollte sich eine Pädagogik der Befreiung mit der Zerstörung dieser Verpflichtung der Integration beschäftigen, die sich in allen Räumen und Vorstellungen der Gesellschaft installiert hat.

Eine Pädagogik der Befreiung muss der einseitigen Konstruktion des Anderen entsagen, als Mechanismus, die eigene Identität zu behaupten. Eine Pädagogik der Befreiung sollte mit der einseitigen Identität, der Identität der Dualität, brechen. Eine Pädagogik der Befreiung etabliert sich nicht vorrangig im Defizit der institutionellen und offiziellen Politik. Das heisst: Eine Pädagogik der Befreiung sieht es nicht als Dringlichkeit, alle bedürften Personen zu erreichen und ihnen eine Lösung zu bieten, welche die staatliche Politik nicht deckt, sondern sie wirft die Dringlichkeit auf, Räume zu konstruieren, um die staatliche Politik im Allgemeinen zu problematisieren, wie beispielsweise die «humanitäre Tradition», die «Neutralität» und die «direkte Demokratie» der Schweiz: also die Dringlichkeit, die Machtstrukturen zu problematisieren.

Ich sehe tatsächlich sehr wenig Emanzipatorisches in der aktuellen Autonomen Schule Zürich, und ich glaube, dass diese Situation dem fügsamen und institutionalistischen Geist der kritischen Politik oder der linken in der Schweiz entspricht. überhaupt denke ich, dass hier in der Schweiz sehr wenige leute ein wirkliches Interesse an einer politischen und ideologis- chen Emanzipation haben. Ich denke, dass die Mehrheit in einer NGO oder in einem Hilfswerk kritisch ist und schlussendlich in der Entwicklungszusammenarbeit endet, um irgendwelche Projekte irgendwo auf der Welt zu unterstützen.

Interview aus dem Spanischen übersetzt von der Redaktion der Papierlosen Zeitung

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