28. Mai 2022 Reywynx Morgado

Unchained Melody

Als LGBTQ+-Aktivist wurde er auf den Philippinen verfolgt. Er floh vor der Hexenjagd in die Schweiz und erlebte da erneut Diskriminierung im Asylzentrum.

Wenn mich jemand fragen würde, wie mein bisheriges Leben war, würde ich antworten: ein grosses Orchester symbolischer Errungenschaften. Seit Jahrtausenden gibt es Menschen wie mich, die in dieser oder jener Funktion für Gerechtigkeit kämpfen und für die Wahrheit eintreten – auf den Strassen, in Fluren, Haushalten und im öffentlichen Raum, wo alle zuhören können. In jedem Reich, das jemals aufgestiegen und gefallen ist, in jedem Königreich, das geblüht oder seinen Untergang erlebt hat, waren wir wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft.

Ich bin ein Journalist.

Ich bin als akkreditiertes Mitglied der Kapisanan ng mga Broadcaster ng Pilipinas (KBP, Verband der Rundfunkanstalten der Philippinen) bei Radio Natin / Cagayan De Oro, ausserdem bin ich Mitarbeiter der Rural Missionaries of the Philippines (RMP), im Rahmen des Programms zur Förderung von Lese-, Schreib- und Rechenkompetenz für indigene Stämme in Mindanao, mit Schwerpunkt auf Nordost- und Nordwest-Mindanao.

Heute sehe ich mich allerdings nicht mehr nur als Journalist. Ich sehe mich als Kämpfer für die Menschenrechte. Als leidenschaftlichen Verfechter der Rechte der LGBTQ+-Community zusammen mit Kapederasyon. Ich sehe es als meine Aufgabe, die Situation in verschiedenen sozialen Bereichen zu beleuchten: hinsichtlich der Rechte der indigenen Bevölkerung (Lumad), der Rechte von LGBTQ+ und der Menschenrechte an sich. Die Wahrheit ist, dass ich aus einem sehr reichen Land komme, in dem es jedoch eine grosse wirtschaftliche Kluft zwischen reichen und armen Familien gibt. Nach Angaben der Weltbank lebt fast ein Viertel unserer Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Und inmitten dieser scheinbar nicht enden wollenden Armut gehöre ich zu jenen, die nach Gerechtigkeit rufen, um den Kampfgeist der Unterdrückten zu wecken. Es ist an der Zeit, dass sie sich nehmen, was ihnen rechtmässig zusteht.

Wenn ich also sage, dass mein Leben ein grosses Orchester ist, dann meine ich damit, dass dieses Notenblatt der Triumphe auch zahlreiche Herausforderungen für mich bereithielt. Wegen meines Radioprogramms und des Buches, das ich 2018 unter dem Titel «Singit» («Schrei») veröffentlicht habe, bin ich auf die Beobachtungsliste der Regierung geraten, auf die Liste der «Terrorist:innen».

Ich war ein Hindernis, und zwar ein lautes, und ich war Schikanen, Angriffen und abfälligen Kommentaren ausgesetzt, weil ich schwul bin und Journalist. Ich fand mich in Fake News, Flugblättern und auf Plakaten wieder, die mich verunglimpften und dämonisierten und mich als Staatsfeind darstellten. Mein Leben war plötzlich in Gefahr.

Der grösste und wahrscheinlich schlimmste Angriff auf meine Freiheit und mein Leben war der, als sie mich jagten und mich beinahe in meiner Wohnung erwischt hätten. Ohne die Hilfe freundlicher Menschen, die mir Zuflucht gewährten, wäre ich heute tot. Das Militär erfand Geschichten über Verbrechen, die ich nie begangen hatte, ich wurde als Straftäter gesucht, wegen Dingen, die ich nie getan hatte. Nach dem Vorbild des Kriegsrechts unter Marcos in den 1970er-Jahren erhob die Regierung haltlose Beschuldigungen gegen mich: Mord, Brandstiftung, Entführung – was auch immer ihnen einfiel.

Aber ich habe mich gewehrt. Man kann die Wahrheit nicht für immer zum Schweigen bringen, und das Böse gewinnt nie wirklich. Ich bin weiter für die Menschenrechte eingestanden, ich habe gegen die Kräfte gekämpft, die mich für immer zum Schweigen bringen wollten. Ich erzählte den Menschen, was mir wirklich widerfuhr, ich sprach im Radio über die wahre Situation der mit mir angeklagten Menschenrechtsverteidiger: innen, und ich hielt die Stellung ohne Furcht – trotz der folgenden Todesfälle von Anwält:innen, Journalist:innen, Radiomoderator:innen und Menschenrechtsverteidiger:innen.

In den Tagen darauf beschloss ich, verschiedene Organisationen um Hilfe zu bitten und nicht zu warten, bis ich der nächste durchgestrichene Name auf der Abschussliste war. Denn mittlerweile schlief ich auf der Strasse, war hungrig und erschöpft, auf der Flucht vor der Sense des Todes. Der Militärische Geheimdienst, der mich suchte, schikanierte meine Familie.

An diesem Punkt hätte ein Mensch ohne Ziel einfach aufgegeben. Es ist eine Sache, für das zu kämpfen, woran man glaubt, und eine andere, dabei auch um sein Leben zu kämpfen. Ich wurde von meinen Landsleuten und meiner eigenen Familie entfremdet, weil jemand an der Macht mich tot sehen wollte – die Duterte-Regierung.

Schliesslich hat mich jemand eingeladen, in die Schweiz zu kommen und dort von meinen Erfahrungen zu erzählen. So bin ich in die Schweiz geflohen. Ich beantragte politisches Asyl in einem Asylzentrum in der Schweiz, und ich hoffte, dort Schutz vor den Bedrohungen und der Hexenjagd zu finden.

In diesem Asylzentrum wurde ich aber auf einer anderen Ebene diskriminiert, weil ich als offen schwuler Mann kam. Ich floh vor der Verfolgung, der ich auf den Philippinen wegen meiner Überzeugungen ausgesetzt war, nur um hier wegen meiner sexuellen Orientierung eine ähnliche Reaktion zu erfahren. Einige meiner Mit-Asylbewerber waren nicht sonderlich erfreut, einen Schwulen in ihrer Mitte zu haben. Ich war Zielscheibe homophober Bemerkungen und Gesten, als ob Schwulsein eine gefürchtete Krankheit wäre. Aber ich kämpfte mich durch all das, denn ich war so weit geflohen, um der politischen Verfolgung in meinem Land zu entkommen, jetzt würde ich nicht aufgeben. Und es gelang mir.

Mir wurde Hilfe von einem Anwalt angeboten, und ich kam in ein Programm für politisch Verfolgte des Schweizerischen Roten Kreuzes, das Unterstützung und Schutz bietet. Queer Amnesty International unterstützte mich wesentlich bei der Verarbeitung meiner Emotionen, stellte mir einen Mentor zur Seite, der mir bei psychologischen Problemen half und bot mir einen sicheren Raum. Sie haben mir dabei geholfen, dass es mir heute besser geht.

Trotz allem bin ich immer wieder aufgestanden und habe gekämpft, habe die Motivation gefunden weiterzumachen. Jede Herausforderung, die ich durchgestanden habe, hat mich härter gemacht. Ich habe aus meinen Leiden Lehren gezogen. Ich habe Wege gefunden, Situationen zu entkommen und mit ihnen umzugehen. Heute stehe ich unabhängiger da. Meine Geschichte hat gezeigt, dass ich die Bedrohungen und Belästigungen, die Homophobie und erfundenen Anschuldigungen überlebt habe. Dass ich diese Geschichte erzähle, hat nicht zuletzt damit zu tun, wie sehr ich mich als LGBTQ+- Aktivist exponiere.

Ich kämpfe weiter für das, was richtig ist, für Integrität, für Gerechtigkeit, und ich helfe weiter den Unterdrückten. Ich bin eine Stimme, welche die Menschen aufrüttelt und herausfordert, sich zu organisieren und zu mobilisieren auf dem Weg zu wahrer Gleichberechtigung und Freiheit – eine Stimme, die nie leiser werden wird.

Ich stelle mich der Musik, und ich tanze zu ihr. Ich habe mich entschieden, mein Leben zu riskieren: als schwuler Journalist, schwuler Schriftsteller, schwuler Aktivist und schwuler Menschenrechtsverteidiger – und ich werde niemals aufgeben.

Mein Leben ist ein grosses Orchester aus symbolischen Errungenschaften, und seine Melodie ist wild, ungezähmt und wahr.

Übersetzt von Ulrike Ulrich

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