1. Mai 2012 Nistiman Amed, Deborah Imhof, Katharina Tereh
Acht Theaterpädagogikstudent_innen, drei Dramaturgiestudent_ innen und zehn Schüler_innen der Autonomen Schule Zürich begaben sich letzten Herbst zusammen auf eine mehrteilige Suche nach unterschiedlichen Lebensrealitäten und Formen des Zusammenlebens. Das Ergebnis, WG Babylon I, wurde nach sieben Wochen auf einer speziellen Bühne gezeigt: Einem Turm aus Holz, gebaut von Architekturstudent_innen der ETH Zürich, unter freiem Himmel auf dem Hönggerberg. Auf Einladung des Theaterhauses Gessnerallee hat die Gruppe entschlossen, WG Babylon I zu überarbeiten. Während der zweiten fünfwöchigen Probephase stellte sich heraus, dass der Turm mangels Baubewilligung nicht an der Gessnerallee aufgestellt werden konnte. Also zog die WG um, in die unbeheizte Werkstatt des Theaters, wo sie der Realität einen Schritt näher kam: Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche wurden eingerichtet, wo der Turm hätte stehen sollen war nun die Realität – WG Babylon II.
Von Katarina Tereh
Biographien
Ich bin Deborah Imhof, bin 22 Jahre alt und ich studiere an der Zürcher Hochschule der Künste in der Vertiefung Theaterpädagogik. Meine Schulzeit habe ich in der Steinerschule verbracht. Als ich 13 Jahre alt war, habe ich das erste mal Alkohol getrunken, ich fühlte mich wie eine Rebellin. Mit meinem Schulabschluss kann ich alles machen, was ich will. Mir steht die Welt offen, auf meinem Sparkonto sind 8'000 Franken.
Mein Name ist Nistiman Amed, ich bin 33 Jahre alt. Ich bin Kurde. Als ich 16 Jahre alt war, habe ich angefangen mich politisch zu engagieren. Mit den olivegrünen Jacken wollten wir eine Revolution machen. Ich war in der Türkei für sechs Monate in Untersuchungshaft, weil ich einen Sack berührt habe, in dem verbotene Fahnen der kurdischen Arbeiterpartei PKK waren. Dafür hätte ich sechs Jahre Gefängnis bekommen sollen. Darum flüchtete ich in die Schweiz.
Interview 1
Nistiman: Wie hat sich deine Sicht auf die Autonome Schule Zürich (ASZ) während der WG Babylon-Projekte verändert?
Deborah: Ich habe die Autonome Schule ehrlich gesagt vorher gar nicht gekannt. Als uns unsere Dozentin eröffnete, dass wir mit der ASZ arbeiten werden, war mein erster Gedanke: «Super, das interessiert mich!» Mein zweiter Gedanke war: «Ui, das wird nicht so einfach werden, ich habe grossen Respekt vor dieser Arbeit.» Da ich aber von Bern Institutionen wie die Reitschule, das Denkmal und das la Biu in Biel ein bisschen bis sehr gut kenne, war mir die Autonome Schule von Anfang an nicht fremd. Ich finde die Autonome Schule macht eine geniale Arbeit und durch die Projekte wurde sie mir auch sehr nahe gebracht.
Nistiman: Normalerweise steigen Mitspieler_innen aus Theaterprojekten aus, weil sie persönliche Probleme haben, z.B. Krankheit, zu viel Stress oder weil es ihnen nicht gefällt. Bei Nelson und Abdullah war es ein ganz anderer Grund, sie mussten ins Gefängnis. Wie bist du mit dieser Situation umgegangen?
Deborah: Ja, das war sehr schwierig. In beiden Projekten kam in der Endphase plötzlich jemand nicht mehr zur Probe, wir wussten nicht was los war und erreichten sie nicht auf dem Handy. Wir waren eigentlich durchs ganze Projekt damit konfrontiert, dass dies passieren kann. Wir beschäftigten uns ja mit genau solchen Schicksalen. Und doch ist es ein riesen Schock, wenn dir plötzlich bewusst wird: jetzt ist einer der Schauspieler im Gefängnis.
Bei WG Babylon I ist Abdullah am Tag der letzten Aufführung wieder aufgetaucht, Nelson sitzt nun im Ausschaffungsgefängnis. Wir haben einerseits versucht diese Geschichten im Theaterstück zu thematisieren. Andererseits versuchen wir uns um die Menschen zu kümmern. Doch da kommt man so schnell an Grenzen, weil das Recht und die Gesetze kompliziert zu lesen sind, und wir in unserer Funktion rechtlich nichts machen können. Ich bin der Meinung, dass eigentlich jeder dieser Menschen eine professionelle Unterstützung bräuchte – eine Person, die kostenlos hilft, durch den Dschungel von Administration und Papierkram zu gelangen.
Nistiman: Wie hat sich die Theaterarbeit mit Sans-Papiers und Asylsuchenden über die Zeit verändert?
Deborah: Zu Beginn war ich oft verunsichert. Wir mussten die Menschen kennenlernen, mit ihnen Zeit verbringen, und sie mussten Vertrauen zu uns finden und dazu, dass das, was wir machen, zu irgendwas taugt. In WG Babylon I geschah ganz viel Kennenlernarbeit. Wir Student_innen suchten nach Wegen der Zusammenarbeit. Die ASZler_innen testeten uns, fragten und waren oft unserer Arbeitsweise gegenüber skeptisch. Das Resultat, das wir auf dem Turm zeigen konnten, führte zu einer Gemeinsamkeit. Jetzt hatten wir alle zusammen etwas erreicht, was in anderen Menschen etwas auslöste. Ich glaube, wir brauchten alle diese Bestätigung, um ohne lange zu zögern in WG Babylon II einzusteigen und das Projekt in fünf Wochen in einem vollkommen anderen Raum neu umzusetzen. Für mein Empfinden haben wir in unserem Theaterstück für unser Publikum nicht etwas «gespielt», sondern wir haben unsere Geschichten, Ansichten und Übersetzungen von Träumen in eine theatrale Form gebracht.
Nistiman: Und wie hat sich dein Blick – der einer Schweizer Theaterpädagogik-Studentin – auf die Asylproblematik durch die Projekte und die Zeit mit den ASZler_innen verändert?
Deborah: Ich hatte mich vor den Projekten auch schon mit diesen Themen auseinandergesetzt. Aber, wie ich merke, nur sehr oberflächlich. Natürlich habe ich jetzt so einiges erfahren, wie das Asylsystem als Ganzes funktioniert. Und trotzdem habe ich gleichzeitig das Gefühl, je mehr ich davon höre, desto weniger versteh' ich es. Nelson, unser Schauspieler, der im Ausschaffungsgefängnis sitzt, sagte zu uns: «The law was made by humans, I cannot understand why humans then don’t understand it!» Weiter habe ich für mich gemerkt, dass die Lösungen ganz unten anfangen. «Jeder Mensch braucht eine Basis, damit er/ sie die Realität anpacken kann.» Eine Aussage, die wir mit unserem Stück WG Babylon II machen wollten. Ein Aufruf dazu, dass jede_r Einzelne etwas dafür tun kann, dass das leben der Asylsuchenden und Sans-Papiers besser wird. Und seien es nur kleine Dinge, wie: an einer Party mit jemandem ein Bier trinken und einen Abend verbringen oder für jemanden einen SIM-Karten-Vertrag abschliessen. Ich alleine kann das Gesetz nicht ändern, aber wenn wir uns kennenlernen, können wir vielleicht gemeinsam etwas tun.
Interview 2
Deborah: Was für Vorstellungen hattest Du vom Theater, bevor wir zusammengearbeitet haben?
Nistiman: Es hat in meinem Leben zwei Abschnitte gegeben, was Theater und Kunst betrifft. Einen in meinem Herkunftsland und dann einen hier, im Exil. Früher in meiner Heimatstadt Amed gab es zwei verschiedene Theater: Das Staatstheater, das klassische Theaterstücke für die Elite inszenierte, und das alternative Stadttheater, das sich engagierte im Kampf für die nicht anerkannten Sprachen und Kulturen von Minoritäten. Das Theater in der Schweiz hat mich an das Staatstheater in Amed erinnert, das mich nicht berührt hat, weil es nicht politisch motiviert war. Und hier habe ich wegen des Kulturschocks am Anfang auch wenig Interesse am Theater gehabt. Denn ich fühle mich ausserhalb der Gesellschaft stehend, und ich denke auch, dass das Theater hier vor allem etwas für eine gesellschaftliche Elite ist.
In der Türkei ist meine Muttersprache Kurdisch verboten. Ich habe daher erst mit 28 Jahren im Stadttheater eine Theateraufführung von Prometheus auf Kurdisch gesehen. Den Prometheus-Mythos habe ich da als revolutionäres Thema verstanden. Das war ein grosser Unterschied zum Staatstheater, wo Kultur nur aus der Perspektive der türkischen Regierung gezeigt wurde.
Deborah: Was sind für dich die prägendsten Erfahrungen aus WG Babylon I + II und unserer gemeinsamen Performance Living in a Limited Place?
Nistiman: Vor WG Babylon hatte ich noch keine Erfahrungen mit Theaterprojekten. Ich fühle mich mehr als Aktivist, als als Schauspieler. Ich habe vor allem gelernt, gegen Verletzungen von Menschlichkeit, wie Rassismus, vorzugehen. Ich versuche den Leuten klar zu machen, dass ich nicht einfach nur «ein Immigrant» bin, über den in Zeitungen und Plakatkampagnen so viel Schlechtes zu lesen ist. Widerstand gegen Rassismus gab mir auch die Kraft, um am Projekt WG Babylon teilzunehmen. Ich lernte da dann weiter, meine Schmerzen nicht in mir zu verschliessen, sondern sie mit anderen Menschen zu teilen. Unsere Szenen gingen von meinem Tagebuch aus. Meine persönlichen Erfahrungen konnten durch das Theater vielleicht ein paar Fragen in den Köpfen der Zuschauer_innen auslösen und stereotype Erklärungen von Fluchtgründen abbauen. In Living in a Limited Place haben wir unter anderem meine Gefängniserfahrungen zum Alltagsrassismus in der Schweiz in Beziehung gesetzt. Dadurch konnte ich meine Erfahrung, mich hier in einem «offenen Gefängnis» zu fühlen, ansprechen.
Deborah: Wie hat sich deine Sichtweise vom Theater, von den Schweizer_innen und von deiner eigenen Situation geändert?
Nistiman: Mein Interesse am Theater ist, wie ich am Beispiel Prometheus beschrieben habe, vor allem ein Interesse an einer Kunst, die eine politische Grundlage hat. Mitten in den Konflikten, in denen ich Theater kennengelernt habe, war es ja sowieso immer ein Luxus, sich mit Kunst zu befassen. Im Krieg fürchten die Menschen um ihr Leben. Und wenn dann überhaupt Theateraufführungen zu sehen sind, dann meistens Tragödien, die mit kriegerischen Umständen zu tun haben. Hier dagegen spielt Theater, denke ich, eine andere Rolle. Theater ist in erster Linie Kunst und beschäftigt sich weniger direkt mit sozialen Auseinandersetzungen. Und selbst wenn Theater auf gesellschaftliche Konflikte eingeht, dann bleiben mir diese Konflikte fremd, weil ich ein Fremder bin hier und einen ganz anderen Kunstgeschmack habe, der eben durch die Theaterkultur in meinem Herkunftsland geprägt ist. Das alles bedeutet, es gibt für mich viele Vorurteile zu überwinden, wenn ich hier eine Theateraufführung anschaue.
Während der Projektarbeit konnte ich solche Vorurteile überwinden. Oft konnte ich aber auch meine Meinung nicht genau genug in Worte fassen, wegen der verschiedenen Sprachen und Kulturen. Ich machte mir oft Sorgen, dass ich nicht ausdrücken kann, was ich mit dem Theaterprojekt wirklich möchte. Mit WG Babylon entstand aber auch einen WG-Atmosphäre, wenn wir uns als Projekt-Freund_innen getroffen haben. Das half mir sehr, nicht im Ghetto meiner Nationalität zu bleiben und nicht nur Leuten in einer ähnlichen Asyl-Situation näher zu kommen, sondern eben auch Schweizer_innen – eine gute Form, verschiedene Leute mit unterschiedlichen Lebensrealitäten kennen zu lernen.
Deborah: Was waren deine Ängste oder Schwierigkeiten beim Theaterprojekt?
Nistiman: Zuerst hatte ich ein Vorurteil: Ich bin Asylbewerber, und Künstler_innen können ein Interesse daran haben, mich deswegen «als Objekt» in ihre Projekte einzubeziehen. Denn sobald sie ihre Fantasien erschöpft haben, suchen sie andere Themen und benutzen uns gerne als interessantes Kunstobjekt. Dabei verfolgen sie nur ihre eigenen künstlerischen Perspektiven und vergessen uns nach der Aufführung. Das andere Bedenken, mich hier als Teilnehmer in Theaterprojekten zu sehen, war wegen der unterschiedlichen Interessen und Lebensgrundlagen der Beteiligten. Aber von solchen Bedenken bin ich im Verlauf der acht Monate in unseren Theaterprojekten mehr und mehr abgekommen