16. August 2021 Abed Azizi

«Vertrauen gewinnen und selbstbewusst werden»

Abed Azizi, fotografiert von Emilio Nasser

Als Geflüchteter darf man eine Lehrstelle suchen – aber tatsächlich eine zu finden, ist sehr schwierig. Abed Azizi erzählt von seinem Weg.

Als Geflüchteter darfst du eine Lehrstelle suchen – aber tatsächlich eine zu finden, ist sehr schwierig. Die Schweizer Institutionen und Firmen und das ganze politische System machen keinen Schritt auf geflüchtete Menschen zu, sondern fördern die Angst.

Meine Lehrstelle als «Fachperson Betreuung» habe ich letztendlich nur durch Vitamin B gefunden. Meine Ausbildung war sehr streng. Aber ich hatte einen starken Willen. Der Wille war stärker als meine Kenntnisse. Ich bin viele Treppen hochgegangen; und ich hatte Menschen um mich, die mich vor und während der Ausbildung unterstützt und ermutigt haben.

Ich war bereits 33 Jahre alt, als ich die Lehre begann. Doch seit ich 13 Jahre alt bin, bin ich weg von Zuhause. Ich war oft in Gefahr und habe verschiedene Orte und Ethnien gesehen; das hat mich sensibel und resilient gemacht, trotzdem bin ich positiv geblieben. Respekt steht bei mir an höchster Stelle, da ich als Kurde selber respektlos behandelt wurde.

Nach meiner Flucht aus Ost-Kurdistan lebte ich sechs Jahre lang als Sans-Papiers in der Schweiz. Ohne Papiere hast du kein Recht und keine Energie, eine Ausbildung zu machen. Du hast immer Angst vor der Polizei, du versteckst dich und erhältst keine Informationen. Du kennst niemanden, und du traust dich auch sprachlich nicht. Ich lebte sechs Jahre unter Druck und Angst und hatte in dieser Zeit keine Chance, mich zu integrieren oder mich über Bildung und überhaupt das Leben hier zu informieren.

Nach drei Jahren wurde mein zweites Asylgesuch abgewiesen, obwohl ich als politischer Aktivist in meinem Heimatland gefährdet war. Mit der Hilfe eines Anwalts reichte ich eine Beschwerde bei der Uno ein. Drei Jahre später erhielt ich endlich den Bescheid von der Uno: Meine Beschwerde wurde angenommen, die Schweiz musste mich als Asylberechtigten anerkennen.


Ich hatte damals übrigens keine Ahnung, dass «Fachperson Betreuung» als Frauenberuf gilt.


Zu jener Zeit hatte ich keine Ahnung vom Schweizer Ausbildungssystem. Meine damalige Freundin sagte: «Ein sozialer Beruf passt zu dir.» Ich arbeite gern mit Kindern. Wir gingen also zusammen ins BIZ, und auch dort bot sich mir die Möglichkeit eines Berufs im Sozialbereich an. Ich hatte damals übrigens keine Ahnung, dass «Fachperson Betreuung» als Frauenberuf gilt.

Ich machte einen Berufsvorbereitungskurs der Stadt Zürich und zwei Praktika. Danach schrieb ich viele Bewerbungen, doch ich wurde nie eingeladen. Meine Lehrstelle in Winterthur erhielt ich durch die Empfehlung eines Bekannten. Es ist sehr wichtig, Menschen zu kennen, offen zu sein, mit den Leuten zu reden, sich freundlich zu präsentieren – auch wenn man als Migrant viele negative Situationen erlebt.

Die Ausbildung war sehr streng. Viele Nächte habe ich nicht geschlafen und bis am Morgen gelernt. Für die Berufsschule erhielt ich nach den Sommerferien eine ganze Schachtel Bücher. 18 Bücher, dachte ich, das kann ich mir nicht vorstellen. So viele neue Wörter! Alles Fachbegriffe, auf Deutsch… Ich hatte vorher noch nie deutsche Bücher gelesen. Aber ich sagte mir: Ich probiere es einfach. Ich erhielt zum Glück Unterstützung von Menschen, die mit mir lernten. Auch die Praxis in der Schule war eine grosse Herausforderung. Ich kannte das Schweizer Konzept einer spielerischen Kindererziehung nicht. Vieles war neu für mich. Und auch schwierig.


Ich hatte vorher noch nie deutsche Bücher gelesen. Aber ich sagte mir: Ich probiere es einfach.


Die Leiterin hatte einen total hierarchischen Führungsstil. Wenn ich von meiner Ausbildnerin Anweisungen erhielt, zum Beispiel: «Du musst den Kindern beim Anziehen helfen», sagte mir die Leiterin kurz darauf: «Die Kinder müssen es selber machen.» So lief das immer, zuerst eine Anweisung, dann genau das Gegenteil. Von meiner Ausbildnerin erhielt ich gute Feedbacks, aber der Druck der Leiterin war enorm. Sie hat mir viele Steine in den Weg gelegt.

Im Rückblick sehe ich, dass es eine Art von Mobbing war. Zum Glück hat die Personalabteilung der Stadt Winterthur das irgendwie erfahren. Nach meinem zweiten Lehrjahr wurde ich von der Personalabteilung eingeladen. Die zuständige Frau fragte mich ehrlich, wie es mir geht, und sagte: «Ich habe einen anderen Ort organisiert. In deinem jetzigen Betrieb lernst du nichts. Geh schnuppern, und wenn es dir besser gefällt, bleib dort.» Am neuen Ort hatte ich einen tollen Chef. Er und sein Team haben mich ein Jahr lang freundlich behandelt und unterstützt. Er sagte: «Wir schaffen das! Unser Ziel ist ein 5er!» So konnte ich meine Lehre abschliessen.

Menschen in Leitungspositionen können viel Macht ausüben. Die zwei Jahre Mobbing haben meine Gesundheit negativ beeinflusst. Mir wurde das Gefühl vermittelt: Wenn du als ausländische Person in der Probezeit eine Frage hast oder mit etwas nicht einverstanden bist, darfst du nichts sagen. Sonst droht die Kündigung.

Aber wenn etwas unmenschlich ist, kann ich es nicht akzeptieren, ich bin ein fairer und kämpferischer Mensch. Gleichzeitig habe ich die Menschen und ihre Bedürfnisse aus der Nähe kennengelernt. Ich spüre gut, was zwischen Personen abläuft. Das hilft mir in meinem Leben. Nun möchte ich weiter studieren und eine Ausbildung in Sozialpädagogik machen.


Bildung hilft auch, mitentscheiden zu können und sich aktiv an der Gesellschaft zu beteiligen. Deshalb wollen die Diktatoren lieber ungebildete Leute.


Bildung ist ein wichtiger Weg, um für Integration zu kämpfen. Um die Mauer zu durchbrechen, damit sich zugewanderte Menschen hier wohlfühlen und ohne Angst kommunizieren können. Dazu braucht es viele kleine Schritte, und jeder ist wichtig. Bildung hilft auch, ein Staatsbürger zu werden, mitentscheiden zu können und sich aktiv an der Gesellschaft zu beteiligen. Deshalb wollen die Diktatoren lieber ungebildete Leute. Für mich selbst bedeutet Bildung, Vertrauen zu gewinnen, selbstbewusst zu werden, auf mich selbst zu vertrauen.

Abed Azizi ist 38 Jahre alt und lebt in Zürich. Zurzeit arbeitet er in einem Alterszentrum und bereitet sich auf die Sozialpädagogik-Ausbildung vor.

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