30. Juni 2020 Amine Diare Conde

Warum kommen Flüchtende in die kleine Schweiz?

Das ist eine von Schweizerinnen und Schweizern häufig gestellte Frage. Meine Freund*innen und ich geben darauf gerne eine Antwort. Das braucht jedoch etwas Zeit.

Schweizerinnen und Schweizer sind stark abhängig von ihrem Zeitplan, ihr Tagesablauf ist derart durchgetaktet, dass sich kaum Raum für Musse findet. Pünktlichkeit ist hier sehr wichtig. Wer nicht pünktlich sein kann, ist im falschen Land gelandet. Ich rate dir, geh nicht an Orte, wo du nichts zu tun hast, zum Beispiel an den Hauptbahnhof Zürich, wo die Polizei, Billett-Kontrolleur*innen und gestresste, vorbeihastende Menschen zu sehen sind - Leute, die zur Arbeit gehen müssen, aber dazu gar keine Lust haben.

Warum diese Frage immer wieder gestellt wird, ist für mich allerdings sehr verständlich. Die Schweizerinnen und Schweizer wissen seit über hundert Jahren nicht mehr aus eigener Erfahrung, was Flucht bedeutet. Nur Schweizer Firmen migrieren. Als ich in Guinea lebte, dachte ich immer, Nestlé sei eine guineische Firma.


Schweizerinnen und Schweizer wissen seit über hundert Jahren nicht mehr aus eigener Erfahrung, was Flucht bedeutet.


Doch es gibt viele Menschen, die durch Kriege, durch Religion, Armut, Krankheiten und Diktaturen unterdrückt werden, Menschen, die wegen ihrer Hautfarbe oder Ethnie diskriminiert werden und die Freiheit suchen. Diktatur ist etwas, was Europäer*innen nicht mehr selbst erlebt haben. Stell dir vor, in einem Land zu leben, wo du überhaupt nie deine Meinung sagen kannst. Oder wo du den Beruf nicht frei wählen kannst, sondern erbst. Wenn dein Vater oder deine Mutter Arzt ist, wirst du als Arzt geboren. Egal, ob du für diesen Beruf geeignet bist oder nicht.

Armut, Krankheiten, Diktatur

In einem diktatorischen Land kann man niemandem vertrauen und niemandem etwas Kritisches sagen, nicht einmal seinem eigenen Bruder, denn der Herrscher hat überall Augen. Da, wo ich herkomme, wurden wir 1958 von Frankreich unabhängig. Bis 2009, während 50 Jahren, haben in meinem Land genau zwei Personen regiert. Der erste regierte 26 Jahre, der zweite 24 Jahre lang, beide so lange, bis sie gestorben sind. Sie haben hunderttausend Menschen umgebracht und Millionen verfolgt. Seit 2009 gibt es eine neue Regierung, sie macht es genau wie die anderen. Der Präsident hat vor, das Gesetz zu ändern, damit auch er bis zu seinem Tod regieren kann.

Man sagt: In den USA und Europa kann man heute wählen und dann live verfolgen, wer gewinnt. In Guinea weiss man schon, wer gewinnt, bevor man überhaupt gewählt hat. Das ist unsere Art von Demokratie, bei der ein Präsident mit 96% der Stimmen gewählt wird.

Der Druck von Armut und Hungersnöten ist riesig. Es gibt Orte, an denen es fast nie regnet und es deshalb einfach kein Essen und Wasser gibt. Die Familien können ihre Kinder kaum ernähren. In der Schweiz kann man Wasser sogar aus der Toilette trinken, während man in Guinea an manchen Orten einen Kilometer weit gehen muss, um sauberes Wasser zu finden.

Jeden Tag sterben Menschen an behandelbaren Krankheiten, weil sie keine medizinische Versorgung bekommen. In der Schweiz erhält man medizinische Behandlung, unabhängig von seinem Einkommen. Sogar wenn ein Tier verletzt auf der Strasse liegt, kommt die Polizei mit dem Krankenwagen.

Wenn Flucht die einzige Alternative ist

Schweizerinnen und Schweizer reagieren oft ratlos und ungläubig auf solche Schilderungen, denn solche Zustände kennen sie nicht. Manche verstehen nicht, dass die gebeutelten Menschen nicht gegen ihre korrupten Regierungen demonstrieren. Aber Diktaturen bewirken eine Gehirnwäsche, sodass die Menschen nicht mehr in der Lage sind, ihre Lebensumstände zu verbessern. Alles, was geschieht, ist der Wille Gottes.

In einem solchen Land gibt es keine Alternativen. Wenn die Leute demonstrieren, werden sie getötet, gefoltert oder zur Flucht gezwungen. Es gibt keinen Rechtsstaat, keine Schule ohne Korruption. Geflüchtete lassen ihre Familien und Freund*innen zurück, durchqueren gefährliche Länder, werden diskriminiert, häufig misshandelt, vergewaltigt oder gar versklavt. Viele Frauen, die hier ankommen, sind schwanger oder haben Kinder von Männern, die sie nicht kennen. Sie schämen sich, darüber zu sprechen.

Aus diesen Gründen riskieren wir alles, um in die herzige kleine Schweiz zu kommen, wo Freiheit und direkte Demokratie herrschen, wo die gute Schokolade uns willkommen heisst und wo die Pünktlichkeit Freund*innen sucht.


Viele Behörden erkennen die desolaten Zustände der Menschen in ihren Heimatländern nicht als Asylgrund an, ebensowenig die schlimmen Dinge, welche die Geflüchteten auf ihrer gefährlichen Reise erlebt haben.


Wir sagen: «Wir konnten bei uns nicht mehr leben, wir brauchen Hilfe.» Ja, natürlich, die meisten werden Hilfe bekommen, genauer gesagt «Nothilfe». Zum Glück bekommt man im Kanton Zürich Fr. 8.50 pro Tag, statt nur Fr. 7.50 wie im Kanton Aargau. Viele Behörden erkennen die desolaten Zustände der Menschen in ihren Heimatländern nicht als Asylgrund an, ebensowenig die schlimmen Dinge, welche die Geflüchteten auf ihrer gefährlichen Reise erlebt haben.

Es gibt hier Möchtegern-Expert*innen für Migration und Geflüchtete, die für nur einen Tag in ein Land reisen und dann behaupten, Eritrea, Afghanistan, Mali und Nigeria gehe es gut, man könne dort gut leben. Politiker schicken Geflüchtete nach Afghanistan zurück, obwohl dort Krieg herrscht und die Taliban die Menschen terrorisieren. Bei Homosexuellen sagen die Behörden, sie seien nicht schwul genug, und dann werden sie in Länder zurückgeschickt, wo sie die Todesstrafe erwartet. Sogar Kinder werden mit ihren Eltern zurückgeschickt, obwohl sie in der Schweiz geboren sind.

Und wenn das Asylgesucht abgelehnt wird?

Die Geflüchteten kommen hier an voller Hoffnung darauf, dass sich in ihrem Leben etwas ändert. Doch in den meisten Fällen wird ihr Asylgesuch abgelehnt, was bedeutet, zurück in die Hölle der Unfreiheit geschickt zu werden. Wenn man dazu nicht bereit ist, landet man in der Nothilfe. Fr. 8.50 pro Tag sollen für Essen, Toilettenartikel, Transport, Abonnement, Kleidung und Schuhe reichen. Kannst du dir vorstellen, das alles mit diesem Betrag zu bezahlen?

Wir sind Menschen, Bewegung gehört zum Menschsein. Ein Mensch, der sich nicht bewegt, ist tot. Es wäre schön, wenn Menschen mit Nothilfe wenigstens die Möglichkeit hätten, kostenlose Angebote im Kanton besuchen zu können. Natürlich braucht man nicht unbedingt ein Handy-Abonnement zum Überleben. Aber viele Migrant*innen haben Eltern, Geschwister und Kinder oder sind sogar verliebt. Man muss mit den eigenen Leuten kommunizieren können.


Wir sind Menschen, Bewegung gehört zum Menschsein. Ein Mensch, der sich nicht bewegt, ist tot.


Während der Wartezeit auf den Asylbescheid findet man in der Schweiz hoffentlich gute Freund*innen und lernt offene Gastfamilien, freundliche Polizist*innen oder sogar Behördenmitglieder von Helvetia kennen. Mit all diesen Menschen möchte man den Kontakt bewahren und mit ihnen Geburtstag feiern. Sie werden sich sicher sehr freuen, wenn man mit einer Schachtel Luxemburgerli vor der Tür steht.

Ich denke, viele von euch wissen, dass es ein Lottospiel ist, wenn man als abgewiesener Asylsuchender kontrolliert wird. Wenn du Glück hast, wirst du frei gelassen, aber es kann sein, dass du Pech hast und mit den Polizisten mitfährst, um Ferien im Gefängnis zu machen, Wenn du Kinder hast, nimmst du sie mit hinter Gitter, wo du die Stadt fast 300 Franken pro Tag kostest. Aber die Stadt zahlt das sehr gern.

Deswegen bleiben manche Menschen drei Monate oder länger im Gefängnis. Danach erhältst du eine unbezahlbare Busse. Wenn du sie nicht zahlst, landest du wieder im Gefängnis. Wenn du aus dem Gefängnis kommst, bist du trotzdem nicht frei. Im Kanton Aargau darfst du den Kanton nicht verlassen. Im Kanton Zürich wird man manchmal sogar in eine Gemeinde gesperrt, egal, wie klein sie ist.

Oft sagen Fachpersonen oder Politiker*innen, dass diese Situation von Nothilfe, Ausschaffungshaft, Eingrenzung, Ablehnung, Abgewiesensein und Rechtlosigkeit der Sans-Papiers halt der Wille der Mehrheit der Einwohner*innen der herzigen kleinen Schweiz sei. Ich kenne viele Einheimische persönlich, deswegen kann ich diese Ausrede nicht glauben.

Ich wohne schon fast sechs Jahre in der Schweiz. Bei meiner Ankunft wurde ich von lachender Schokolade willkommen geheissen. Auf der Fahrt von Vallorbe bis Zürich wurde ich zweimal von einem Billettkontrolleur begrüsst. Sogar Mutter Helvetia erschien mir im Traum und versprach mir, dass ich ihr Sohn werde.

Die 26 Kantone können bestätigen, dass ich mich hier wohlfühle. Es wäre ein grosser Fehler, mich zu zwingen, von hier wegzugehen. Ich muss keinen Grund haben, um hier zu bleiben. Das gilt auch für viele meiner Freundinnen und Freunde, die zurzeit in einer prekären Situation in der Schweiz leben.


Es schmerzt mich und Mutter Helvetia in unseren Herzen, dass die richtigen Helden und Heldinnen erst nach ihrem Tod von Kanton oder Bund anerkannt werden. Zum Beispiel Paul Grüninger oder Carl Lutz.


Deswegen nutze ich diese Möglichkeit, um den Heldinnen und Helden zu danken, die sich für Menschen wie mich in der Not oder Nothilfe engagieren. Ihr seid Tag und Nacht für uns und unsere Kinder da, wenn wir krank oder traumatisiert sind. Ihr geht manches Risiko ein und nehmt uns mit nach Hause, obwohl ihr das nicht dürft; ihr besucht uns im Bunker, im Gefängnis oder in der Ausschaffungshaft. Manche sind aktiv in Deutschkursen und Hausaufgabenhilfe, andere übernehmen die Begleitung bei Behördenterminen und machen Spitalbesuche, wieder andere kochen und backen für uns. Und das alles, obwohl manche pensioniert sind, manche gar gesundheitlich angeschlagen. Ihr behandelt uns wie Familienmitglieder und teilt alles mit uns, was uns trifft, auch das Weinen und den Stress.

Es schmerzt mich und Mutter Helvetia in unseren Herzen, dass die richtigen Helden und Heldinnen erst nach ihrem Tod von Kanton oder Bund anerkannt werden. Zum Beispiel Paul Grüninger oder Carl Lutz. Menschen wie sie waren gestern Held*innen, sind heute Held*innen und werden es auch morgen sein. Mutter Helvetia ist stolz auf sie und viele andere.

Ein blosses Dankeschön genügt nicht für das, was ich ausdrücken möchte. Ich bin gerührt und dankbar für alles, was sie für uns machen. Ihre ausgestreckte Hand bleibt als Bild in unseren Herzen. Wie man in Guinea sagt: Dankbarkeit ist die schönste Blume, die in unserer Seele aufblüht.

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