1. April 2023 Mo Wa Baile

Wie können weisse Menschen für ein Ende von Racial Profiling einstehen?

Living Archive im Living Room in Bern. Ein Besuch lohnt sich!

Organisiert euch in Gruppen von möglichst über 50 Personen in verschiedenen Städten und trefft euch einmal pro Woche, um polizeiliche Kontrollen zu beobachten und zu dokumentieren.

Stell dir vor, du bist in einem vollen Tram auf dem Weg nach Hause, da sprechen dich plötzlich Polizeibeamte an und fragen dich nach deinen Papieren. Du willst wissen, warum gerade du kontrolliert wirst, worauf dich die Beamten harsch auffordern, auszusteigen. Du hast Angst und teilst ihnen mit, dass du vor Kurzem eine Herzoperation hattest. Aber anstatt dich gehen zu lassen, sprühen sie dir Pfefferspray in die Augen und schlagen dich zusammen. Dann nehmen sie dich minutenlang in den Würgegriff. Du kannst kaum noch atmen. Als die Polizisten merken, dass du fast stirbst, bringen sie dich in Handschellen in ein Krankenhaus. Du hast Prellungen an Hals und Kiefer, und die Ärztin sagt dir, dass du einen gebrochenen Lendenwirbelfortsatz, Blutungen in den Augen und eine Oberschenkelzerrung hast. Du wirst wegen einer Meniskusverletzung operiert. Du gehst mit einem Polizeibericht nach Hause, in dem keine Verletzungen erwähnt werden. Danach gehst du zwölf Jahre lang von Gericht zu Gericht, um Gerechtigkeit zu erlangen. Die Staatsanwaltschaft versucht zwei Mal, deinen Fall einzustellen. Die Gerichte sprechen die Polizeibeamten frei. Du lebst mit den Schmerzen und dem Trauma und weisst, dass die Polizei dich jederzeit wieder anhalten kann, weil du als Schwarze Person betrachtet wirst. Du hast überlebt. Wie Wilson A.

Stell dir vor, du wirst regelmässig von Polizist:innen angehalten und beschliesst deshalb, eine Handtasche zu tragen und dich wie eine Touristin zu kleiden, damit deine Existenz nicht jedes Mal infrage gestellt wird, wenn du ausgehst.

Stell dir vor, du bist hier geboren, aber die Menschen sehen dich als Fremden. Du fühlst dich nicht wohl. Du hast psychische Probleme. Du bist in einem Bahnhof und gehst auf den Bahnsteig. Polizist:innen tauchen auf und erschiessen dich mit drei Kugeln. Wie R. Nzoy. Die Polizei verbreitet die Nachricht, dass du ein Messer hattest. Deine Familie weiss, dass die Polizei die gleiche Geschichte erzählte, als sie Hervé Mandundu und Subramaniam H. mit mehreren Kugeln tötete und mit den Morden davonkam. Stell dir vor, das Leben eines Familienmitglieds endet auf diese Weise.

Stell dir vor, Polizisten schlagen dich mitten in der Stadt nieder und drücken dir ein Knie auf den Hals, sodass du nicht mehr atmen kannst. Du verlierst das Bewusstsein und wirst regungslos in einen Polizeiwagen geworfen. Mit einem gebrochenen Arm und einem gebrochenen Finger wirst du ausgeschafft. Du überlebst, wie Mehdi. Stell dir vor, einer aus deiner Familie wird gefesselt und ihm wird der Mund zugeklebt, bis er erstickt, wie Khaled Abuzarifa. Dein Nachbar erstickt mit auf dem Rücken gefesselten Händen, wie Samson Chukwu. Dein Freund erstickt gefesselt und mit einem Spuckschutz und einem Helm über dem Kopf, wie Joseph Ndukaku Chiakwa. Deine Schwester wird von der Polizei gejagt und die Polizei behauptet dann, sie hätte sich selbst umgebracht, wie bei Mariame Souaré und Andy Bestman. Dein kleiner Bruder wird in eine Zelle gesperrt und du bekommst eine Nachricht von der Polizei, dass er sich umgebracht habe. Wie Ousman Sow, Alhusein Douto Kora, Abdi Daud, Medina Yassin Suleyman, Oleg N., Ilhan O., Lamin Fatty, Salah Tebbouche.

Stell dir vor, du informierst beim Asylgesuch die Behörden nicht nur über das Massaker, das du überlebt hast, und über deine politische Verfolgung, sondern du erklärst auch deinen kritischen Gesundheitszustand. Du hast mit Splitterstücken in deinem Körper zu kämpfen und leidest unter einer koronaren Herzkrankheit. Du bittest die Behörden um eine angemessene Behandlung. Du bittest um das Recht auf Leben und Gesundheit. Du gehst ins Spital mit Taubheitsgefühlen im Arm und am Kiefer sowie Sodbrennen und Schmerzen im Hals und Magen. Es wird eine Röntgenaufnahme durchgeführt und ein Blutbild erstellt. Die Diagnose lautet: Magenverstimmung und Herzrhythmusstörungen wegen des zuvor getrunkenen Energiegetränks. Der Arzt verschreibt ein Dafalgan-Schmerzmittel und ein Medikament gegen dein Sodbrennen. Dann wirst du ins Asyllager zurückgeschickt. Im Lauf des Tages verschlechtert sich dein Zustand immer mehr. Du weinst vor Schmerzen mit Schaum vor dem Mund, und stirbst im Taxi auf dem Weg ins Spital, allein. Wie Sezgin Dağ.

Seit sieben Jahren weigere ich mich, Polizeibeamt:innen meinen Ausweis zu zeigen, weil ich weiss, dass sie mich immer wieder anhalten, weil ich Schwarz bin. Seit drei Jahren weigere ich mich, Journalist:innen Interviews zu geben, weil ich weiss, dass sie davon besessen sind, Geschichten oder Held:innen zu kreieren. An meiner letzten Podiumsdiskussion an der «Tour de Lorraine» anlässlich der Filmvorführung von «Les coups de leurs privilèges» ist mir klar geworden, dass ich nicht mehr an Podien teilnehmen will, weil die Leute lieber konsumieren möchten als direkte Aktionen organisieren. Bei Podiumsdiskussionen sind noch nie Veränderungen entstanden. Ich habe keine Lust mehr zu reden, wenn es nicht mit direkten Aktionen verbunden ist.

Wir leben in einer Zeit, in der rassismuskritische Diskussionen und Workshops beliebt sind. Menschen, die sich gegen Rassismus engagieren, kennen sich in der ganzen Schweiz. Es gibt verschiedene Chat-Gruppen von Menschen, die sich mit Fragen von Race, Gender, Sexualität, Religion, Klasse, Kaste oder Behinderung beschäftigen. Wir sind mehr denn je miteinander verbunden. Das hat es mir ermöglicht, meinen Fall seit über sieben Jahren weiterzuführen, ohne mir Sorgen wegen Gerichts- und Anwaltskosten machen zu müssen.

Mein Fall wird vollständig finanziert von Menschen, die ich teilweise nicht einmal kenne. Mein Fall ist ein kollektiver Fall, nicht mehr meiner. Um rassistische Polizeikontrollen und Polizeigewalt zu stoppen, müssen wir noch mehr Gerichtsfälle finanzieren und direkte Aktionen organisieren. Diskussionen sind nur dann gut, wenn die richtigen Leute auf das Podium eingeladen werden. Zeitungsartikel können eine Wirkung haben, wenn die Stimmen der Unterdrückten ernst genommen werden. Demonstrationen sind ebenfalls gut, sofern genügend weisse Menschen auf die Strasse gehen. Direkte Aktionen sind wichtig, fehlen aber in der Schweiz. Direkte Aktionen können, wenn sie gut und kollektiv organisiert sind, sowohl die Gerichte als auch die Polizeibehörden unter Druck setzen, um zumindest über rassistische Polizeiarbeit zu sprechen. In Workshops wurde immer wieder die Frage gestellt: Was können wir tun, um Racial Profiling zu bekämpfen? Hier sind drei wichtige Dinge, die ihr tun könnt:


1
Solidaritätsgruppen aufbauen, um Gerichtsverfahren gegen rassistische Polizeiarbeit zu unterstützen. Es gibt viele BIPoCs, die rassistische Polizeikontrollen oder/und Gewalt erleben, aber aus finanziellen Gründen ihre Fälle nicht vor Gericht bringen. Andere sind gezwungen, Geldstrafen zu zahlen, nachdem sie von der Polizei misshandelt wurden, weil sie sich keinen Anwalt leisten können. Solidaritätsgruppen könnten Menschen unterstützen, die gegen die Polizei vor Gericht ziehen wollen. Je öfter wir die Polizei vor Gericht bringen, desto besser. Wichtig ist auch das Dokumentieren von rassistischer Polizeiarbeit und Rassismus in den Gerichten.


2
Eine Prozessbeobachtungsgruppe aufbauen, um Rassismus vor Gericht zu dokumentieren. Wenn Fälle, die sich mit BIPoCs und Polizeibeamt:innen befassen, vor Gericht verhandelt werden, ist es wichtig, so viele Menschen wie möglich zu mobilisieren, um in Solidarität mit BIPoCs an den Gerichtssitzungen teilzunehmen und Druck auf das Justizsystem auszu-üben. Organisierte Gruppen sollten bei den Gerichtsverhandlungen anwesend sein. Institutionellen Rassismus gibt es nicht nur bei der Polizei, sondern auch in der Justiz. Das «Forschungskollektiv Rassismus vor Gericht» tut diese Arbeit für den Fall von Wilson A. und meinen Fall. Es sollte mehr Gruppen geben, um so viele Fälle wie möglich zu dokumentieren.


3
Direkte Aktionen organisieren, um Druck auf die Polizei, die Gerichte und die Parlamente auszuüben. Es sollten in der ganzen Schweiz Arbeitsgruppen gebildet werden, die durch Aktionen Druck auf die Polizei, die Justiz und die Regierung ausüben, damit diese zumindest die systemische Praxis der Kontrolle von BIPoCs anerkennen. Wir kämpfen dafür, dass eine unabhängige Kommission alle bisherigen Todesfälle bei Polizeieinsätzen, auf Polizeistationen oder in Polizeigewahrsam untersucht und Fälle von Polizeigewalt systematisch erfasst. Aktionsgruppen können mit einer Besetzung des Bundesplatzes das Parlament unter Druck setzen und dazu bewegen, eine solche Kommission zu schaffen. Eine meiner Lieblingsideen ist die Bildung verschiedener Gruppen von jeweils über 50 Personen in verschiedenen Städten, die sich einmal pro Woche treffen, um polizeiliche Kontrollen zu beobachten und zu dokumentieren. Eine andere Idee ist es, in Gruppen von über 100 Personen mit Anwält:innen und Wissenschaftler:innen, aber ohne Pässe und Ausweise, die Schweizer Grenzen überqueren.


Stell dir vor, dich in einer Solidaritätsgruppe zu organisieren, um Mehdi zurück in die Schweiz und die Polizisten vor Gericht zu bringen, weil sie ihre Knie auf seinen Hals gedrückt haben. Stell dir vor, dich in einer Gruppe zu organisieren, um die Familie von R. Nzoy vor Gericht zu unterstützen. Stell dir vor, die Familie von Mariame Souaré zu unterstützen und die Polizei vor Gericht zu bringen. Stell dir vor, dich in einer Prozessbeobachtungsgruppe zu organisieren, die alle Gerichtsverhandlungen sowie die Situation von Brian K. dokumentiert, der seit Jahren isoliert und gefoltert wird und keinen Zugang zu Familienbesuchen und Bildung hat. Stell dir vor, dich in einer Aktionsgruppe zu organisieren, die regelmässig und so lange wie nötig vor dem Gefängnis protestiert, in dem Brian K. eingesperrt ist, bis er aus der Isolationshaft befreit wird. Stell dir vor, dass wir den Fall von Mehdi, von R. Nzoy, von Mariame Souaré, von Brian K. und von vielen anderen Fällen von Polizeigewalt vor den Europäischen Gerichtshof bringen.

Liebe weisse Menschen, unterstützt antirassistische Kämpfe auf organisierte Weise! Mobilisiert so viele weisse Menschen wie möglich, um ein Ende der rassistischen Polizeigewalt zu fordern, und zu verlangen, dass voreingenommene Richter:innen und Staatsanwält:innen, die rassistische Polizeigewalt ignorieren, entlassen werden. Organisiert einen Aufruf, um die Medien zu boykottieren, die immer wieder die gleichen Polizei- und Gerichtsgeschichten wiederholen: X widersetzte sich der Verhaftung, Y sprang vom Balkon, Z erhängte sich. Nutzt euer Privileg, um rassistische Polizeigewalt zu bekämpfen. Organisiert direkte Aktionen!

Untätigkeit gegen rassistische Polizeigewalt bedeutet, die Brutalität des weissen Systems zuzulassen, das R. Nzoy, Hervé Mandundu, Subramaniam H., Khaled Abuzarifa, Samson Chukwu, Joseph Ndukaku Chiakwa, Mariame Souaré, Andy Bestman, Ousman Sow, Alhusein Douto Kora, Abdi Daud, Medina Yassin Suleyman, Oleg N., Ilhan O., Lamin Fatty, Salah Tebbouche, Mike Ben Peter, Sezgin Dag˘ und weitere BIPoCs das Leben gekostet hat. Helvetzid ist eine systematische Todesursache von Menschen in polizeilicher Untersuchungshaft, in Flüchtlingszentren und in Spitälern. Brecht mit dem Rassismus! Eine Demonstration von 500 Personen gegen rassistische Polizeigewalt ist für die Polizeibehörden lächerlich klein. Wir brauchen mindestens 8000 Menschen in Solidarität mit Wilson A. bei der kommenden Gerichtsverhandlung. Er ist unser George Floyd, der in Zürich das Knie auf seinem Hals überlebt hat.

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