29. Mai 2025 Interview: Paul Leuzinger

Wie weiter nach Bashar al-Assads Sturz in Syrien? Fragen an Ari und Malek

Malek und Ari sind syrische Kurden und vor dem Assad-Regime in die Schweiz geflüchtet. Sie haben sich 2016 im Asyllager Höri kennengelernt und waren lange an der ASZ aktiv.

Wie habt Ihr am 8. Dezember 2024 vom Sturz von Bashar al-Assad erfahren? Was war Eure erste Reaktion? 

Ari: Als ich erwachte, war mein Handy schon voller Nachrichten: «Hey, Ari, was läuft in Syrien?» Ich hatte die Nachrichten jeden Tag verfolgt. Trotzdem war ich extrem überrascht, als ich dann las, dass der Diktator aus Syrien geflüchtet und die Regierung zusammengebrochen sei. Ich telefonierte etwa zwei Stunden rum, um zu schauen, ob es meinen Leuten in Syrien gut geht. Dann kam sofort die Frage: Wie geht es nun weiter? Meine Freude war also von kurzer Dauer, denn mir war gleich klar: Ein erstes Hindernis ist jetzt zwar weg, aber was kommt als nächstes? 

Malek, wie hast Du reagiert? 

Malek: Ich hatte die Entwicklung schon länger verfolgt: die Eroberung von Aleppo, dann rückten die Rebellen weiter nach Hama und Humus (Homs, Anm. d. Red.) vor. Es hiess, wenn Humus fällt, ist das Regime gefährdet. So war es dann auch. In der Nacht lag ich wach, es war 4.33 Uhr, da sah ich auf Twitter die Nachricht des Premierministers, dass das Regime gestürzt sei und der Präsident geflohen. Ich konnte mich nicht wirklich freuen. Natürlich dachte ich: Endlich ist das Regime weg! Mit Assad hätte man nie eine Lösung erreichen können. Aber von Minute eins an war mir klar, dass man der neuen Regierung, der HTS (Hayat Tahrir al-Sham) und ihrem Anführer Abu Muhammad al-Dscholani, der jetzt unter seinem bürgerlichen Namen Ahmed al-Scharaa auftritt, nicht vertrauen kann. Die Kurden kennen ihn. 2013 und 2014 hat er gegen die Kurden gekämpft. Ich konnte mich also nicht nur freuen und wusste: Für die Kurd:innen bleibt es schwierig, vielleicht wird es sogar noch schwieriger. 

Ari, wie war Deine zweite Reaktion, nach weiteren Entwicklungen, zusätzlichen Informationen und weiterem Nachdenken? 

Ari: Zuerst kamen mir die Bilder aus Afghanistan, vom Flughafen in Kabul in den Sinn, als die Taliban die Macht übernahmen. Ich fragte mich, ob sich das in Syrien wiederholt, wo doch diejenigen, die das Regime gestürzt haben, auch Islamisten sind. Denn sie bleiben Islamisten, die wie Terroristen vorgehen. 

Malek, Deine weitere Analyse? 

Malek: Ich muss zugeben, dass es anders lief als bei den Taliban in Kabul. Die HTS und die Gruppen unter ihrer Führung waren klüger und haben die staatlichen Strukturen und Institutionen nicht einfach zerstört und das Land ins Chaos gestürzt. Aber ich schliesse mich Aris Einschätzung an: Das sind Islamisten. Noch bleibt aber die Hoffnung, dass sie sich vielleicht doch in erster Linie als Syrerinnen und Syrer sehen. 

Ari: Im Unterschied zu den Taliban verbieten sie nicht alles. Sie fahren einen sanfteren Kurs. So wie das Assad-Regime vor sechzig Jahren die Macht etappenweise von Jahr zu Jahr mehr an sich gerissen hat. Ich sehe das pessimistisch. Das Volk wird zunehmend unter Druck kommen, und eine islamistische Ordnung wird sich etablieren, die das Land mit eisernen Händen regiert. 

Malek: Was ins Auge springt, sind die neu ernannten Minister. Sie waren schon in Idlib an der Macht. Das sind ehemalige Dschihadisten, die im Moment moderat auftreten und so auf Legitimität hoffen. Ich versuche, optimistisch zu sein, aber … 

Misstraut Ihr also den Beteuerungen des neuen Präsidenten, alle politischen Kräfte zu berücksichtigen, wenn sie ihre Waffen abgeben, eine neue Verfassung auszuarbeiten und demokratische Wahlen abzuhalten? 

Malek: Ich frage mich, ob er wirklich die Macht hat und welche Rolle die Türkei spielt. Ich glaube, die Türkei hat kein Interesse an einer stabilen Situation in Nordsyrien. Scharaa hat als Erstes die Türkei besucht, der türkische Aussenminister und der türkische Sicherheitsminister waren in Syrien … Wie weit kann Scharaa selbst entscheiden? Ohne die Türkei hätte er die Kontrolle in Syrien nie übernehmen können. 

Welche Rolle spielt Israel? 

Beide: Das weiss man nicht. 

Malek: Ich bin froh, dass Israel Strukturen der syrischen Armee bombardiert und zerstört hat. Besser zerstört, als dass sie gegen die Minderheiten eingesetzt werden können. 

Ari: Ich glaube, Israel hat insofern eine wichtige Rolle gespielt, als es den Iran und die Hisbollah geschwächt hat. Die waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie das Assad- Regime nicht stützen konnten. Vielleicht aus Versehen haben sie geholfen, dass eine instabile Situation entstanden ist, die der HTS die Legitimation gegeben hat, die Ordnung wiederherzustellen. Und ein einheitliches System anzustreben, das alle religiösen und ethnischen Minderheiten vernachlässigt oder sogar zerstört in der Absicht, in einem Namen und unter einer Flagge zu sprechen. Und hier ist nun das Problem, dass die jetzige HTS-Regierung mit Blick auf die auszuarbeitende Verfassung in drei Jahren schon jetzt versucht, jegliche Diversität zu zerstören, und die unterschiedlichen religiösen und ethnischen Minderheiten nicht anerkennt. 

Malek: Dabei ist klarzustellen, dass es sich keineswegs um Minderheiten handelt. Wir sprechen von Kurden, die dreissig Prozent des syrischen Territoriums unter ihrer Macht haben, von einer Million Alawiten, von Christen, von Drusen … sie alle sind keine kleinen Minderheiten. Und ja, die Situation ist nicht nur im Nahen Osten komplex: Israel, Katar, die Türkei, die neuen weltweiten Entwicklungen, der 7. Oktober, der Ukrainekrieg … alles hängt zusammen und macht die Sache verworren. 

Was denken die Menschen im Land? Was denken Eure Familie und Freunde in Syrien? 

Ari: Ich glaube, sie sind durch ihre Erfahrungen sehr radikalisiert und trauen der anderen Seite nicht. Die Kurden zum Beispiel möchten Sicherheiten, dass sie nicht ausgelöscht werden – im wörtlichen Sinn. Denn wenn sich die Regierung als arabisch-islamistisch versteht, heisst dies automatisch, dass Kurden – und Alawiten und Drusen gleichermassen – nicht mehr existieren. Wenn die Gruppen um Scharaa, die Assad gestürzt haben und jetzt an der Macht sind, einen islamischen Staat errichten, muss bedacht werden, dass die Hälfte der Bevölkerung nicht im strengen Sinne gottesgläubig ist. Da kann eine extremistische Gruppe nicht ihre religiösen Werte durchdrücken. 

Malek (unterbricht): Aber ich habe das Gefühl, Syrien ist nicht mehr das Land, das wir vor zehn Jahren verlassen haben. Die Zahl der Gläubigen ist krass gestiegen. Das hat auch damit zu tun, was sie in den vergangenen Jahren erfahren haben. Da wurde Gott fast zur einzigen Hoffnung, die geblieben ist … Ich teile Deine Einschätzung so nicht. Im Gegenteil: Vor der Revolution 2011 sprach niemand von Salafisten, nur in Hama, in Aleppo gab es vereinzelt Muslimbrüder … Aber jetzt – geh einmal nach Idlib, Hama, Humus, Deir es-Zor und schau dich um. Die Leute haben sich radikalisiert, auch religiös. Vor der Revolution gab es keine salafistischen Parteien, jetzt schon. Viele Araber begrüssen es, sich heute von Scharaa repräsentiert zu sehen, das ist ihnen lieber als von Assad. 

Ari: Das sind aber auch diejenigen, die nicht akzeptieren, dass es ein diverses Syrien geben soll. 

Malek: Sie haben vor Kurzem ein neues Schulfach zur politischen Bildung eingeführt. Da wird ersichtlich, welche Begriffe sie propagieren. Sie sprechen zum Beispiel nicht vom osmanischen Kolonialreich, sondern von osmanischem Reichtum. Sie streichen den Namen der Königin Senubi (Zenobia, eine mächtige Königin des alten Orients aus Palmyra, Anm. der Red.) aus den Büchern. Das sind Zeichen dafür, dass man sich mit Scharaa nicht arrangieren kann. 

Ari: Eine solche islamistische Indoktrination passt nicht zum Versprechen, in drei Jahren eine neue Verfassung zur Abstimmung vorzulegen. Ich glaube, Scharaa folgt einer Strategie: Er gewinnt Zeit und Macht, indem er beteuert, dass er sich auf den Wiederaufbau fokussiere, dass die Strom- und Wasserversorgung wieder funktionieren sollen und die Grundbedürfnisse abgedeckt werden, dass er die Sicherheit gewährleiste. So versucht er, die Forderungen der Kurden, der Alawiten, der Drusen als zweitrangig darzustellen. 

Malek: Scharaa war in Latakia und hat Alawiten getroffen; er hat sich mit Scheichs der Drusen getroffen. Er hat sich zu diesen beiden Gruppen geäussert. Zu den Kurden hat er bisher nicht so viel gesagt, nur einmal hat er sich kurz geäussert, als er sie «unsere Geschwister» nannte, die auch unter dem Assad-Regime gelitten hätten. 

Ari: Ich glaube, die HTS-Regierung wartet auf Anweisungen aus Ankara. 

Malek: Eben, das meine ich auch. Mag sein, dass Scharaa eigentlich auch Frieden mit den Kurden haben möchte und das nicht darf. Und: Eigentlich bin ich schon froh, dass er sich um die Infrastruktur kümmert. Ich meine, die Menschen in Syrien brauchen Strom und Wasser zum Leben. Wir sprechen von ein paar Millionen Menschen, die in Syrien unter prekären Bedingungen leben … 

Ari: Das darf aber nicht zu einer Ausrede werden, andere politische Kräfte auszusperren. 

Zum Schluss eine Frage aus dem Schweizer Umfeld: Was antwortet Ihr rechten Schweizer Politiker:innen, die kurz nach der Nachricht vom Sturz Assads die Meinung äusserten, die aus Syrien Geflüchteten könnten jetzt wieder in ihre Heimat zurückkehren? 

Malek: Befremdlich, diese Forderung, kaum dass Assad weg war! Man sieht doch, dass die Lage in Syrien nach wie vor unübersichtlich ist. Noch ist vieles unsicher und labil. 

Ari: Man hat doch die Entwicklungen im Jemen, im Sudan, in Libyen, in Tunesien, sogar in Ägypten sehen können. Man dachte, dass Ruhe und Demokratie einkehren. Und nach kurzer Zeit brach ein Bürgerkrieg aus. Wir haben berechtigte Angst, dass sich so etwas in Syrien wiederholen könnte. Scharaa hat sich zu den Kurden bis jetzt nicht verbindlich geäussert. Was, wenn Erdoğan sagt, er wolle keine Terroristen, und Scharaa dann Folge leisten und auch sagen muss, er wolle keine Terroristen auf syrischem Territorium? Dann ist die Frage: Wer sind die Terroristen? 

Malek: Wir, die Kurd:innen! 

Ari: Genau. Und deshalb ist es absurd, jetzt voreilig zu sagen, syrische Geflüchtete hätten hier nichts mehr zu suchen. Denn Syrien ist ein Land, das seit 14 Jahren unter einem schweren Krieg leidet … 

Malek: Syrien ist doch nicht in der Nacht vom 8. auf den 9. Dezember eine Demokratie wie Schweden oder die Schweiz geworden! Auch wenn ich mir noch so sehr wünsche, dass sich die Lage stabilisiert und es nicht zu einem Bürgerkrieg kommt, ist die Situation leider schwierig und komplex. Viele Gruppierungen mit unterschiedlichen Interessen müssten zusammenleben können. Aber zurück zur Forderung, nach Hause zurückzukehren: Selbst wenn sich die Lage in Syrien verbessert und stabilisiert hat – nachdem syrische Menschen über zehn Jahre unter schweren Bedingungen hier gelebt und sich mühevoll ein neues Leben aufgebaut haben, sollten doch die Betroffenen selbst die Wahl haben, ob sie zurückzugehen oder hierbleiben möchten. 

Ari: So ist es. Und die neu Ankommenden sollten weiter als Menschen behandelt werden, die vor dem Krieg geflüchtet sind und vielleicht auch ihre politischen Motive haben. Denn die Situation in Bezug auf die Rechte von Frauen oder LGBTQ-Menschen ist alles andere als rosig. Sie werden nach wie vor diskriminiert und verfolgt. 

Wie seht Ihr die Zukunft? Welche Wünsche habt Ihr für die Kurden in Syrien? 

Ari: Ich bin eher pessimistisch. Im besten Fall könnte sich ein System entwickeln wie in Saudi-Arabien oder in der Türkei: ein einheitliches System, in dem nur arabische Sunniten die Macht haben und die andern sich anpassen müssen. Es sind keine oder wenig bedeutende Kompromisse festzustellen. Ich sehe keine Möglichkeit, keine Freiheit, dass ich als Kurde in der Schule meine Sprache lernen darf. Mein Wunsch, der nicht völlig unrealistisch ist, wäre, dass die syrischen Kurden wie im Irak eine gewisse Autonomie erhalten. Dass sie über ihre Region selbst bestimmen können und ein Teil der neuen Regierung werden. Das funktioniert im Irak und bedroht die Sicherheit der Türkei in keiner Weise. Die Kurden wollen keine Spaltung Syriens, auch wenn dies behauptet wird. 

Malek: Die Zukunft Syriens? Das ist eine schwierige Frage. Ich weiss nicht, wie sie aussehen wird. Ich wünschte mir schon, dass man sich doch einigen könnte, dass sich alle Beteiligten als Syrerinnen und Syrer betrachten und so in die Verhandlungen gehen. Es geht um das Beste für das Land. Wir alle haben genug Unterdrückung erlebt, genug Krieg, genug Blut wurde vergossen. Viele von uns haben geliebte Verwandten verloren. Millionen Menschen sind aus Syrien geflüchtet. Ich hoffe und wünsche mir, dass die Mächtigen bei ihren Verhandlungen das nicht vergessen, einig werden und ein Syrien für alle Menschen schaffen können. Vielen 

Dank für dieses Gespräch, Malek und Ari. 


Hinweis 

Das Interview wurde im Februar 2025 geführt.

Artikel mit ähnlichen Themen:
Loading ...