7. November 2020 Lilly Claudia

Wir dürfen diese Ungerechtigkeiten nicht hinnehmen

Der 30. Oktober 2020 war ein weiterer schwarzer Tag für die Menschenrechte in Europa. Das solidarische Flüchtlingscamp Pikpa, ein Gegenmodell zum Schrecken von Moria, wurde von der griechischen Polizei brutal geräumt.

Seit 2012 beherbergte und unterstützte die NGO Lesbos Solidarity in Pikpa als Betreiberin des Camps die verletzlichsten unter den Geflüchteten: kranke, traumatisierte Menschen, Opfer von Folter, alleinstehende oder schwangere Frauen, Opfer von genderbasierter und sexueller Gewalt und Familien. Sie wurden jeweils vom UNHCR (Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge) aus dem Camp Moria dorthin nach Pikpa transferiert. Das Camp war selbstorganisiert, unabhängig von staatlicher Hilfe und ein Beispiel dafür, wie man ein Flüchtlingscamp unter menschenwürdigen Zuständen führen kann. 

Mitte September 2020 kündigte der griechische Migrationsminister Mitarakis in den Medien an, Pikpa per Ende Oktober 2020 räumen zu wollen. Kara Tepe – ein weiteres Camp für besonders verletzliche Personen auf Lesbos – sollte Ende Dezember 2020 ebenfalls geschlossen werden. Nur zwei Wochen zuvor war das für seine menschenrechtswidrigen Zustände bekannte Moria komplett abgebrannt, und 12'000 geflüchtete Menschen mussten während mehreren Tagen auf der Strasse schlafen, ohne genügend Wasser, Nahrungsmittel, sanitäre Anlagen oder medizinische Versorgung. Aktivist*innen, welche in dieser Zeit vor Ort waren, berichteten von schrecklichen, verzweifelten Szenen während der Essensverteilung. Umso mehr verstört die Entscheidung der griechischen Regierung zur Schliessung von Pikpa.

Als Reaktion auf den Brand in Moria, stampfte die griechische Regierung innert kurzer Zeit im Ort Kara Tepe ein «Moria 2.0» aus dem Boden. Auf einem ehemaligen Militärstützpunkt, wo kriegstraumatisierte Kinder beim Spielen alte Schusspatronen finden und der Boden möglicherweise verseucht ist, wo Zelte keinen Boden haben und beim ersten starken Regen komplett überflutet wurden. Ungeschützt von Sonne, Wind und Regen. Ohne genügend Nahrung für die Menschen, ohne medizinische Versorgung. 

Gebrochene Zusagen der Behörden

Nach der Räumungsankündigung des Ministers im September versuchten die Verantwortlichen von Pikpa sofort und immer wieder, mit den griechischen Behörden Kontakt aufzunehmen, um die Räumung zu stoppen oder wenigstens herauszufinden, wann und wie die Räumung geplant war. Zuerst gaben diese gar keine Informationen heraus. Dann sagten sie zu, dass die Mitarbeitenden von Pikpa die Bewohner*innen selbst in die neuen Unterkünfte transportieren könnten, um die Bewohner*innen nicht unnötigem Stress auszusetzen. Sie machten  jedoch auch unmissverständlich klar, dass jeglicher Widerstand von Seiten der Aktivist*innen negative Auswirkungen auf die Asylverfahren der Geflüchteten hätte.  

Am 29. Oktober kam die Polizei zum ersten Mal – ohne Räumungsbefehl. Der diensthabende Offizier sagte, den würden sie nicht brauchen. Anwält*innen und Mitarbeitende von Pikpa gelang es schliesslich, aufgrund des widerrechtlichen Vorgehens der Polizei die Räumung vorerst zu verhindern. Viele Bewohner*innen von Pikpa fühlten sich durch diese Situation an Erlebnisse in ihrem Heimatland erinnert, als sie darauf warteten, dass die Taliban in ihr Dorf eindringen würden. 

Am 30. Oktober morgens um 6.30 Uhr kam die Polizei zum zweiten Mal – unangekündigt, mit einem riesigen Aufgebot, militärischen Fahrzeugen und martialischen Schutzschildern. Sie kam, um die 74 im Camp verbliebenen Menschen abzuholen, unter ihnen 32 Kinder, viele kranke und traumatisierte Personen und Frauen mit neugeborenen Babys,. Die Polizisten riegelten das Camp ab und überwachten die Gegend aus der Luft mit einer Drohne, damit sicher auch niemand flüchten konnte. Die gemachte Zusage, schonend vorzugehen, brachen sie komplett. Sie verwehrten den Psychologinnen, Sozialarbeitenden, Anwälten und ehrenamtlichen Mitarbeitenden den Zugang, gingen von Tür zu Tür, rissen die Bewohner*innen aus dem Schlaf und wiesen sie an, innerhalb einer halben Stunde zu packen. Den Familien und Menschen blieb somit nicht einmal genug Zeit, um ihre Habseligkeiten zu sammeln. Vielen fehlen nun am neuen Ort genügend warme Kleidung und Wolldecken. Alle Geflüchteten wurden in einen Bus verfrachtet, in dem sie zusammengepfercht für Stunden in der Hitze ausharren mussten. Die Türen blieben geschlossen, es gab kein Wasser und keine Möglichkeit auf die Toilette zu gehen. Eine schwangere Frau erlitt einen Zusammenbruch und musste ins Krankenhaus transportiert werden. Eine andere Frau erlitt Blutungen. Ihr wurde mitgeteilt, sie müsste sich erst im neuen Camp registrieren, danach könne sie zum Arzt gehen. Helfer*innen wurde der Zugang weiterhin verwehrt.

Eine zynische Begründung

Die ehemaligen Bewohner*innen von Pikpa wurden in das Camp Kara Tepe gebracht, das Ende Jahr ebenfalls geschlossen werden soll, damit gemäss Aussage des griechischen Migrationsministers Miratakis alle Geflüchteten in einem zentralen Lager untergebracht werden können. Die Organisation an einem zentralen Ort sei effizienter, für die Bevölkerung angenehmer und die Gesundheitsversorgung besser. Wenn man bedenkt, dass sich fast alle medizinischen NGOs aus Gewissensgründen aus Moria 2.0 zurückgezogen haben, ist diese Aussage purer Hohn und Spott. 

Der 30. Oktober war ein schwarzer Tag für Europa und die Menschenrechte. Umso wichtiger denn je ist es, diese Ungerechtigkeiten nicht hinzunehmen, laut und wütend zu bleiben, Druck aufzubauen auf unsere Regierung und die europäischen Regierungen. Wir dürfen auch die griechische Bevölkerung, noch immer gebeutelt von der Wirtschaftskrise in 2010, nicht alleine lassen mit der europäischen Migrationspolitik, die im Land bereits zu einem massiven Rechtsrutsch geführt hat: Im Juli 2019 kam die rechte Partei Neo Dimokratia an die Macht – mit den Folgen die wir nun gerade erleben. Nicht aufzugeben: Das schulden wir den Menschen, die nun in der Kälte in Zelten in Kara Tepe, Moria 2.0, auf Samos und überall sonst ausharren – ohne genug Kleidung und Essen und verzweifelter denn je und in kompletter Ungewissheit, was ihre weitere Zukunft betrifft. 

Wir müssen zusammenstehen. Alle. Und kämpfen. 

Lilly Claudia hat von Mai bis Oktorber 2019 im Camp Pikpa als Freiwillige gearbeitet und war zuletzt im September 2020 auf Lesbos. Sie steht weiterhin in engem Kontakt mit ehemaligen Mitarbeitenden und Bewohner*innen des Camps.

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