12. Mai 2023 Ari Suleiman

Zurück ins Meer

Von Zürich zurück ans Mittelmeer. Diesmal als Tourist und nicht als verdächtiger Terrorist. Ein unheimliches und seltsames Gefühl überkommt mich, als ich zum ersten Mal in meinen Ferien im Meer schwimme. Der Tod ist nah, er wird zum ständigen Begleiter der Badeferien. Die ertrunkenen Geflüchteten werden immer mehr. Gleichzeitig wird durch Frontex die tödliche Abschottung Europas verstärkt.

Die Sonne scheint. Das Wetter ist schön und warm. Das Meer ist ruhig. Kinder spielen mit ihren Familien. Die Stimmung ist leicht und locker. Plötzlich fange ich an zu weinen. Ich verstand nicht, warum.

Dieses Gefühl überkam mich einfach, und ich konnte es nicht ignorieren. Heute verstehe ich es besser. Die Geschichte begann vor mehr als sechs Jahren. Da war ich in der Türkei und lernte zum ersten Mal das Mittelmeer kennen. Nach dem ersten erfolglosen Versuch, über das Meer nach Europa zu kommen, wagte ich keine weiteren Versuche mehr. Ich fühlte den Tod um mich herum. In diesem Moment erinnerte ich mich an die Worte meiner Familie: Ich solle möglichst nicht den Weg über das Meer nach Europa nehmen, sondern den Landweg, der sei etwas sicherer. Im Mittelmeer sind drei Verwandte, Mitglieder meiner Familie, ein enger Freund und einer unserer Nachbarn ertrunken. Das ist sehr traurig und schrecklich. Es war klar: Ich werde diesen Rat befolgen, ich bin nicht wieder in ein Gummiboot gestiegen.

Nachdem ich in Zürich angekommen war, konnte ich mein Leben neu beginnen. Und so unternahm ich dann auch den ersten Urlaub in meinem Leben. Nach allem, was ich durchgemacht hatte. Ich wollte zum ersten Mal erleben, ein Tourist zu sein. Das Mittelmeer lernte ich neu kennen. Am Strand wurde ich dann mit diesen unheimlichen und seltsamen Gefühlen konfrontiert: bedrohlich, unklar und schmerzhaft mit meiner Vergangenheit verknüpft. Damit ich sie besser verstehen konnte, verbrachte ich mehr Zeit am Strand und dachte nach. Das Wetter, die Atmosphäre, das Meer, das alles versetzte auch mich in eine angenehme Ferienstimmung, in eine genüssliche Zufriedenheit. Aber was für ein Kontrast zu dem, was auf der anderen Seite des Mittelmeers passiert!

Die Grenzen, die Menschen zwischen sich aufgerichtet haben, scheinen stark zu sein. Auf der einen Seite des Mittelmeers sind die Urlauber:innen, die sich vieles gönnen und viel erleben wollen: teure Wassertaxis, Bootstouren, Delphine beobachten, Strandspaziergänge, Wasserspiele etc. Auf der anderen Seite des Mittelmeers sind Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen bei der Überfahrt, und so geht das seit Jahrzehnten. In diesem blauen, ruhigen, warmen Wasser sterben Menschen in der Hoffnung auf einen Neubeginn. Alle, die die Überfahrt wagen, umarmen den Tod und versuchen, dabei nicht von ihm geschnappt zu werden. Es ist ein schreckliches Paradox: diese zwei Arten von Menschen am gleichen Meer zu finden. Die einen privilegiert, die anderen nicht.

An einem Morgen bei Sonnenaufgang suchte ich nach Antworten auf meine Gefühle. Ich schwamm allein in der Frühe. Das Stechen von Quallen hat meine Todesängste in die Erinnerung zurückgebracht. Als ob mir die Geister der ertrunkenen flüchtenden Menschen etwas sagen wollten. Damit sie nicht in der dunklen Tiefe des Meeres vergessen werden, sondern sich in Erinnerung rufen. Dass das Ferienparadies hier auf der anderen Seite der Friedhof von vielen ist. Dass sich in die schönen Erinnerungen ein beunruhigendes Bewusstsein schleicht. Dass nicht alle dieselbe Stranderfahrung haben. Dass darunter Dramen sind und das Ende von Menschenleben. Dass es Zufall ist, auf welcher Seite des Mittelmeers wir uns befinden, dass es jeden treffen kann – auch jemanden, den wir liebhaben. Lass uns Abschied nehmen von den Zahllosen und Namenlosen, die in den Tiefen des Meeres ihr Leben verloren und an die uns die Quallen erinnern. Die Toten finden keine Ruhe und klagen uns an. Das sollen wir alle wissen: Der Weg in die Freiheit war ihr Grab. Die Ferienorte sind überfüllt mit Tourist:innen. Und das Meer, in dem sie schwimmen, ist ein Friedhof für Tausende, die keinen Namen und keine Familie mehr haben. Ein stummes, dunkles, vergessenes Grab.

Das freie Mittelmeer hat seit Langem seine wichtige verbindende Funktion als Brücke zwischen den Kontinenten verloren. Die hat sie nur noch für die privilegierten, reichen Menschen. Für alle anderen ist das Mittelmeer eine schwer überwindbare Grenze. Meine Erfahrung als Tourist hat in mir viele Emotionen geweckt. Ich habe Monate gebraucht, um das zu verarbeiten und zu realisieren. Ich habe gemerkt, dass ich nie ein normaler Tourist am Meer sein kann. Die toten Menschen werden sich immer in meine Gedanken drängen und mich begleiten. Doch auch das ändert nichts an der Realität, dass trotz allem immer Flüchtende im Mittelmeer sterben, während andere sich Ferien am Strand gönnen.

Was sich bei mir verändert hat: Ich werde von meiner Trauer und meinem Entsetzen weitererzählen, um so die kleinen Flammen der Kerzen leuchten zu lassen auf dem Friedhof der verstorbenen Kamerad: innen, die es nicht nach Europa geschafft haben. Ich habe Familienmitglieder, Freunde, Bekannte und Nachbarn, die ihr Leben im Meer verloren haben. Wenn ich in diesem Text den Verstorbenen zum Sprechen verhelfen könnte, würden sie sagen: «Wir wollten leben, wir wollten nicht sterben.»


In der gleichen Ausgabe der Papierlosen Zeitung erschien der Beitrag «Begegnung auf See» von Anastasia Gerber, in dem sie sich daran erinnert, wie sie als Kind einem anderen Kind auf der Flucht begegnet ist.

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