6. November 2016 Switzerland 4 Calais

Räumung im Land der Revolution

Bilder: Association Polyvalence (Facebook)

Am 24. Oktober räumte die französische Polizei das Flüchtlingscamp in Calais. Dieser atmosphärische Augenzeugenbericht schildert die Repression – aber auch den lebendigen Mikrokosmos, den die Räumung zerstörte. 

Als wir uns auf der Autobahn dem Fährhafen näherten, stiegen rechts des meterhohen Gitterzauns Tränengaswolken auf, Schüsse pfiffen durch die Abenddämmerung, Polizeiwagen überall. Ich war verwirrt. Wir stiegen aus unter einem Tunnel vor dem Haupteingang zum Camp und durch den Rauch erspähte ich hunderte von Zelten, zwischen drin verängstigte und aufgebrachte Gestalten, die sich Kleider vor die Gesichter halten, wütende Polizisten, Menschen werden verprügelt, am Boden liegend, immer wieder die Schüsse des Gummischrots, Sirenen überall, jeder Atemzug beisst bis tief in die Lunge. Wir fahren weg.

Später am Abend wieder zurück, bei sudanesischen Freunden meines Begleiters sind wir zum Iftar, Fastenbrechen, eingeladen. Sie wohnen in der Mitte des Camps, vor ihren Hütten brennt es aus einer Mülltonne, es ist kalt für die Jahreszeit, mit dem Wind flattern die auf Holzlatten genagelten Plastikplanen, sie sind Dach, Wand, Zaun. Abdi umarmt mich, als wären wir schon lange Freunde, Tee vor dem zum Ofen umfunktionierten Mülleimer, meine Worte verschwinden im kalten Nebel. 

Zweiter Abend, Iftar bei Mansur und seinen Freunden. Der Tisch ist voll mit Essen, Salate, Reis, Fleisch, Gemüse, alles gekocht auf einem kleinen Gaskocher, das Beisammensein zum Fastenbrechen ist der wichtigste Treffpunkt. Wir sprechen über Religion, ich sage, dass ich nicht viel davon halte, sie lachen. Später spielen wir auf Trommeln und Töpfen, ich singe auf Kauderwelsch so laut, bis der Imam auftaucht und uns wütend die Pfannen klaut, wir lachen und verfluchen ihn.

In der Nacht lebt das Camp, die Generatoren brummen vor den Cafés, Shishas rauchen die Zelte ein und an jeder Ecke werden die Spenden vom Nachmittag verkauft. Menschen diskutieren auf den Strassen, streiten über Vieles, Rivalität und Zusammenhalt so nah beieinander.

Der europäische Humanismus ist nur für Eingeladene, keine Hilfe für Pilger, kein Leben für Fremde, nur wer heimisch ist, kriegt Privilegien. Egoismus und Rassismus wegen Verlustängsten. Was für eine Identität, was ist Heimat und wem gehört sie? Frankreich, das Land der grossen Rebellion, stolz auf Ungehorsam und Revolution, verkennt aktuelles Leid und daraus entstehende Rebellion. Ich bin verwirrt.

Mehr lesen: Nach der Räumung in Calais – wie weiter?

Switzerland 4 Calais ist eine Gruppe von Freundinnen und Freunden, die sich in Calais getroffen haben. Sie sammelt Geld, fährt nach Calais, unterhält sich im Camp und überlegt, was es gerade am dringendsten braucht. Switzerland 4 Calais versteht sich nicht als Dienstleister, sondern entscheidet in einem kollektiven Prozess mit den Bewohnern des Camps, was mit den Spenden passiert. Ein Spendenaufruf und Kontaktangaben finden sich hier.

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