26. Juni 2023 Yves Pascal Honla

Integration braucht Offenheit

Damit das Zusammenleben von einheimischen und zugewanderten Menschen funktioniert, braucht es Menschlichkeit und Solidarität – im politischen System und bei jedem und jeder Einzelnen.

Warum ich in der Schweiz bin, das weiss ich. Glauben Sie mir, ich hätte gerne entscheiden wollen, ob ich hierherkomme und bleibe oder nicht. Viele verschiedene Gründe bewegen Menschen dazu, zu einem anderen Horizont zu wandern. Wanderungen finden aber nicht nur von einem Land oder Kontinent zum anderen statt, sie geschehen auch in demselben Land, in derselben Region und in derselben Stadt.

Die Migration innerhalb eines Landes bekommt weniger Aufmerksamkeit, was nicht bedeutet, dass die Wirkungen nicht relevant sind. Die Einwandernden, egal wer sie sind und wo sie hinwandern, werden mit ähnlichen Themen konfrontiert, und die Sorgen der lokalen Bevölkerungen sind mehr oder weniger gleich. Die Schwierigkeiten, Erwartungen und Sorgen der beiden Gruppen werden gerne in einen Kernbegriff gefasst: Integration.

Was bedeutet Integration? Bedeutet Integration Assimilation? Angleichung? Anpassung? Es fällt mir schwer und ist vielleicht auch anmassend, hier eine genaue Definition zu schreiben. Vielmehr lade ich Sie ein, zusammen mit mir die folgenden Situationen zu analysieren.

Wenn Menschen migrieren, bringen sie ihre Kulturen, Traditionen, ihre Erziehung und auch ihre Träume und Sorgen mit. Migration ist ein Sprung ins Ungewisse. Man hat vielleicht eine Vorstellung davon, wohin man geht; aber wie die Realität dort aussieht, weiss man nicht. Sobald Migrant:innen an ihrem neuen Wohnort ankommen, können sie von Stress überwältigt werden – denn alles ist neu und anders. Da ist die Angst, etwas falsch zu machen, die Angst, nicht zu wissen, was man wann tun soll, die Angst, zurückgewiesen oder nicht verstanden zu werden ... Meine eigenen Ängste und Frustrationen waren sehr gross. Wie ein Kind habe ich Hilfe erhofft, wurde aber meinem traurigen Schicksal überlassen.

Je nach Alter, Bildungsniveau und Anpassungsfähigkeit des Einzelnen werden die Integrationsansätze unterschiedlich sein. Jüngere, offene und weniger zurückhaltende Menschen könnten die Mechanismen der neuen Gesellschaft schneller verstehen und ihre Codes schnell lernen. Für ältere Menschen oder zurückhaltendere Personen oder für Menschen mit einem niedrigeren Bildungsniveau könnte es schwieriger sein, ihre neue Umgebung zu verstehen. Sowohl im ersten als auch im zweiten Fall verhält sich der Mensch so, wie er es kann, und das hat in der Regel damit zu tun, womit er aufgewachsen ist. Er versucht, sein Leben zu führen, wie er es gewohnt ist. Mit der Verhaltens- oder Gesundheitsgeschichte können Schwierigkeiten einhergehen; manchmal begünstigen bestimmte Biografien Straftaten.


Jede Gesellschaft, die sich nicht öffnet und sich nicht weiterentwickelt, wird aussterben.


Als ich in die Schweiz kam, versuchte ich, meine neue Umgebung zu verstehen, und ging auf die Leute zu, aber sie hatten offenbar Angst vor mir. Die lokale Bevölkerung sehnt sich nach Harmonie, der Bewahrung von Traditionen, Kultur und Lebensstandard. Neues kann Angst machen. Die Nachrichten, wie sie grösstenteils von den Medienhäusern produziert werden, stellen die Einwanderung nicht als positiven Faktor dar, was die Ängste verstärken kann.

Die Menschen vor Ort können durchaus von Mitgefühl und Solidarität ergriffen werden. Die Realität ist aber, dass es immer die Angst gibt, dass Migrant:innen entweder die Vorteile des Systems ausnutzen, die Kriminalität erhöhen, die Lebensstandards senken oder dass die Einheimischen ihre Authentizität verlieren könnten.

Für die lokale Bevölkerung wäre es am einfachsten, wenn die Migrant:innen, sich an die Gegebenheiten ihres Gastlandes anpassen und genau das tun, was die lokale Bevölkerung tut; sich in die Masse einfügen, ohne dass die lokale Bevölkerung Anstrengungen unternehmen muss, sondern einfach «normal» weiterleben kann. Ich spreche aber gerne über unsere Traditionen, unsere afrikanischen Kulturen, ich spreche gerne darüber, was wir alles in andere Relationen setzen und wie wir Glück definieren. Ich spreche auch gerne über die Widerstandsfähigkeit von Menschen, die nichts haben, um denjenigen Mut zu machen, die denken, dass sie bereits alles verloren haben. Ich denke, dass diese Lebenskultur überall gut geteilt werden kann, und das ist meiner Meinung nach auch Integration.

Wir kommen wieder zum Begriff der Integration. Was wäre, wenn Integration Entwicklung, Fortschritt, Offenheit und gegenseitige Bereicherung unter Einhaltung der örtlichen Regeln bedeuten würde?

Was wäre, wenn Integration ein Prozess des gegenseitigen Lernens wäre, der Begleitung von Migrant:innen und deren Bereitschaft, zu lernen und sich für den Erhalt der Harmonie ihres Aufnahmelandes einzusetzen?

Wenn man glaubt, dass Integration ein einseitiger Prozess ist, ist man gescheitert, bevor man überhaupt angefangen hat. Migrant:innen haben zwar die Aufgabe, die örtlichen Gesetze, Prinzipien, Traditionen und Werte zu verstehen und sie zu respektieren, aber es ist verständlich, dass sie auch ihre Werte und Traditionen einbringen, die der neuen Gesellschaft, in der sie leben sollen, einen Mehrwert bringen können.

Jede Gesellschaft, die sich nicht öffnet und sich nicht weiterentwickelt, wird aussterben. Der Wunsch, dass Migrant:innen ohne jegliche Unterstützung und innerhalb eines kurzen Zeitraums in der Masse untergehen sollen, zeugt von falschem Denken. Wenn jedoch die Politik, die formalen Systeme und die lokale Gesellschaft es sich zur Aufgabe machen, die Migrant:innen einzuführen und zu begleiten, damit sie sich zurechtfinden, dann sind die Chancen auf eine gerechte Integration gross.

Um dies zu erreichen, braucht es viel Menschlichkeit im politischen System, im Verwaltungssystem, aber auch im sozialen Bereich. Es braucht Solidarität und Mut in jedem einzelnen Menschen, unabhängig von seiner Herkunft. Am besten wäre es ja, wenn wir uns wie kleine Kinder verhielten, die sich kennenlernten – sie haben keine Vorurteile, sie haben nur Liebe und Neugier.

Wir sind keine kleinen Kinder mehr, aber wir müssen tief in uns die Menschlichkeit, die Solidarität und den Mut wiederfinden. Das, was uns dazu bringt, andere richtig kennenzulernen: wie sie sind (nicht nur ihre aktuelle Situation). Wenn alle dies tun könnten, ohne Vorurteile, sondern mit Demut und Respekt, dann würden wir wieder wie diese Kinder werden – und Integration wäre möglich.


Yves Pascal Honla hat den schwierigen Weg eines Asylsuchenden in der Schweiz in einem Buch beschrieben. Er wirft dabei einen spannenden Blick von aussen auf unsere Gesellschaft und die Unzulänglichkeiten des Schweizer Asylsystems: «Das Labyrinth». Eigenverlag, Fr. 28.50 (plus Porto Fr. 5.00). Bestellungen über: teamdaslabyrinth@gmail.com

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